Mittwoch 17.12.14, 12:13 Uhr
Hubert Schneider: Leben nach dem Überleben.

Juden in Bochum nach 1945


„Sie haben schon von anderer Seite gehört, was sich in Bochum tut, viel Gutes ist nicht zu berichten.“ Siegbert Vollmann, erster Vorsitzender der hiesigen jüdischen Gemeinde nach dem Krieg, zeichnet im Herbst 1947 ein tristes Bild von der Situation in seiner Stadt. Anfangs sind es vier Juden (Juni 1945), Ende 1947 dann fünfundfünfzig Gemeinde-Mitglieder, überwiegend jüdische Partner aus den so genannten Mischehen und ihre Kinder. Menschen, die sich für ein Weiterleben in ihrer Stadt entschieden haben. Doch welche Motive führten zu ihrem Verbleib in dem Land, dessen Politik zuvor auf ihre Ausgrenzung, Vertreibung und Vernichtung abgezielt hatte? Welche Hoffnungen trieben sie an, welche Ängste und Sorgen belasteten ihre Existenz? Wie lebte es sich inmitten einer nichtjüdischen Gesellschaft, die ihnen alles andere als wohlgesonnen begegnete? Wie ging man zudem um mit dem Unverständnis der jüdischen Bevölkerungsteile, die sich für eine Emigration entschieden hatten und nun die Daheimgebliebenen aus der Ferne mehr als kritisch beäugten?
Hubert Schneider, Historiker, ehemaliger Dozent der Ruhr-Universität und Autor diverser Untersuchungen zur jüdischen Bevölkerung Bochums, geht diesen Fragen nach und zeichnet auf Basis akribischer Archivarbeit sowie zahlreicher Gespräche und Briefwechsel mit Gemeindemitgliedern und ihren Nachkommen ein beeindruckendes Bild von der Situation in der Stadt nach 1945. Anknüpfend an ältere (Maor 1961; Brumlik 1986) und jüngere (Brenner 1995, 2012; Geis 2000) Darstellungen zur Geschichte der Juden im Nachkriegsdeutschland allgemein legt er in seiner Lokalstudie seinen Schwerpunkt darauf, Einzelschicksale nachzuzeichnen, um diese zu würdigen sowie die Vielschichtigkeit jüdischen Lebens nach dem Holocaust aufzuzeigen. Die insgesamt sechzig entstandenen Porträts von Bochumer Juden bilden folglich den Kern des Buches. Ihnen vorangestellt sind Ausführungen zu den Anfängen jüdischen Lebens in Deutschland und Bochum nach 1945, ein Kapitel über das Jüdische Gemeindeblatt und seine dominierenden Themen der Nachkriegszeit (Antisemitismus, Prozesse gegen NS-Verbrecher, Fragen der Wiedergutmachung sowie der immer wieder drängende Konflikt „Gehen oder Bleiben?“) sowie die Rahmenbedingungen jüdischen Lebens in der Stadt. Ferner widmet Schneider einen Abschnitt dem Wirken Siegbert Vollmanns sowie erläutert in zwei Exkursen die Phänomene „Mischehen“ und „Entnazifizierung“.
Die Biografien der jüdischen Gemeindemitglieder sind ein wahrer Schatz. Schneider bewahrt die Erinnerung an Menschen, die trotz traumatischer Erfahrungen an ihrer Bochumer Heimat festhielten, aus Verbundenheit oder weil familiäre, gesundheitliche, finanzielle, bisweilen schlicht organisatorische Gründe einer Auswanderung im Wege standen. Gezeichnet von „Wunden aller Art“ (so Moritz David, langjähriger Bochumer Rabbiner) stellten sie sich den neuen, teils unerwarteten Herausforderungen vom feindseligen Nachbarn bis zur quälenden bürokratischen Hürde in Angelegenheiten der Wiedergutmachung. Wenn der Leser sich vertraut macht mit den Lebenswegen der Adlers und Kaufmanns, der Goldfelds und Rawitzkis; wenn neben Kummer und Mühsal von wachsenden Familien oder beruflichem Fortkommen die Rede ist; wenn zu den Personen Stadtteile oder sogar Straßennamen samt konkreter Adressen vor Augen geführt werden: dann entsteht ein höchst anschauliches Gesamtbild und man erkennt, dass Schneider mit seiner Studie eine wichtige Forschungslücke zur Bochumer Geschichte geschlossen hat, deren Ergebnisse fraglos auf andere Städte übertragbar sind. Denn „Bochum war überall in Deutschland, wo Juden sich nach 1945 niederließen und wieder neue Gemeinden gründeten“ (S. 93).
Hubert Schneider: Leben nach dem Überleben. Juden in Bochum nach 1945.
Hgg. vom Verein „Erinnern für die Zukunft e. V.“ in Verbindung mit dem Stadtarchiv – Bochumer Zentrum für Stadtgeschichte.
LIT-Verlag Berlin 2014.