Dienstag 18.11.14, 15:50 Uhr
Buchvorstellung im Stadtarchiv

Leben nach dem Überleben


Am morgigen Mittwoch, den 19. November um 18 Uhr stellt Dr. Hubert Schneider sein neues Buch „Leben nach dem Überleben: Juden in Bochum nach 1945“ im Bochumer Stadtarchiv, Wittener Straße 47, vor. In einem Gespräch machte er vorab gegenüber der Presse deutlich, dass er mit der Veröffentlichung den Juden, die nach 1945 nach Bochum zurückkehrten, eine Stimme geben wolle. Den Schwerpunkt des Buches bilden 60 Biografien, die auf fast 350 Seiten ein nahezu vollständiges Bild der Bochumer jüdischen Gemeinde in den ersten Jahren nach dem Krieg liefern. Eine solch umfassende Darstellung einer jüdischen Nachkriegsgemeinde dürfte einzigartig in Deutschland sein.

Möglich wurde dies durch die engen Kontakte, die Hubert Schneider seit Anfang der 1990er Jahre zu den Überlebenden der alten Bochumer jüdischen Gemeinde geknüpft hat. Sie bzw. ihre Kinder haben ihm umfangreiches Material überlassen.

In seinem Buch „Die ‚Entjudung‘ des Wohnraums – ‚Judenhäuser‘ in Bochum. Die Geschichte der Gebäude und ihrer Bewohner“ hat Hubert Schneider vor vier Jahren bereits die Vorkriegsgeschichte der Bochumer Juden ausführlich aufgearbeitet. In seiner neuen Arbeit sucht er die Antwort darauf, wie es überhaupt möglich war, dass die jüdischen MitbürgerInnen in die Stadt zurückkehrten, in der sie Diskriminierung und Verfolgung erlebt hatten.

Eine Antwort ist, dass viele von ihnen in der Rückkehr nach Bochum nur eine Zwischenstation sahen, um nach Israel oder die USA auszuwandern. Einen beachtlichen Teil der damaligen jüdischen Kultusgemeinde bildeten Familien aus sogenannten „Mischehen“, bei denen also nur ein Elternteil dem jüdischen Glauben angehörte.

Ein Glücksfall für die Bochumer Geschichtsschreibung ist die Tatsache, dass es mit Siegbert Vollmann einen aufmerksamen Chronisten gab. Als Vorsitzender der jüdischen Gemeinde hielt er den Kontakt zu den Bochumer Juden, die sich ins Ausland retten konnten. Die Durchschläge seiner Briefe und die Antwortschreiben sind in großem Umfang erhalten.

Seine Schilderungen sind äußerst pessimistisch. Er schreibt im September 1947 in einem Brief: „Sie haben schon von anderer Seite gehört, was sich in Bochum tut, viel Gutes ist nicht zu berichten. Wir haben uns andere Vorstellungen gemacht, wie sich das Leben im neuen Deutschland für uns entwickeln wird und sind sehr enttäuscht. Mit der Demokratie geht es genau so, wie 1919 bis 1933; es sind dieselben Leute in den ersten Stellen, wie vor 1945, nur haben sie das Mäntelchen anders gehängt.“

Weiter heißt es in dem Brief: „Der Antisemitismus sitzt noch tief im Volke und in unserer jüdischen Zeitung kann man von ihm und den vielen Grabschändungen reichlich genug lesen. Die jüngeren Menschen, die hier noch leben, hätten gut getan auszuwandern, statt Familien zu gründen.“

Hubert Schneider beschreibt die Lebenswirklichkeit der Juden in Bochum nach 1945: Das Schwanken zwischen Hierbleiben und Auswandern, die zähe Diskussion über „Wiedergutmachung“, die Wahrnehmung der Entnazifizierungsverfahren oder der Prozesse gegen Naziverbrechen. Schließlich: Der Prozess gegen die Brandstifter der Bochumer Synagoge wurde 1950 eingestellt.

Dies war sicherlich kein gesellschaftliches Klima, in dem die grausamen Erlebnisse vergessen werden oder die vielfältigen Verletzungen heilen konnten. Hubert Schneider benutzt den Begriff der Beschädigung, die die Juden erlitten haben. Ein normales Leben war undenkbar.

Das Buch ist vom Verein Erinnern für die Zukunft herausgegeben worden und erscheint in der wissenschaftlichen Reihe des Stadtarchivs. Es ist auch als e-book erhältlich.

Hubert Schneider:

Leben nach dem Überleben: Juden in Bochum nach 194

LIT Verlag, 475 S., 29.80 EUR, gb., ISBN 978-3-643-12796-9