„Das Geschriebene ist dem Tod entrissen. Der Tod wird durch jedes geschriebene und gelesene Gedicht, durch jedes Buch verstümmelt.“ (Marguerite Duras)
Am Vorabend des offiziellen Gedenktages für die Opfer des Nationalsozialismus und der Befreiung des KZ Auschwitz laden die KUNSThallen ROTTSTR5 zu einer außergewöhnlichen Nacht ein. Unter dem Titel „Fäden ins Nichts gespannt“ entwickelt sich ein szenisches Enviroment aus Raum, Licht, Film, Texten, Musik und Installation. Um 21:00 Uhr öffnen die KUNSThallen ROTTSTR5 für eine Erinnerung in der Gegenwart, die „Negativität und Zweifel nicht leugnen“. „Ziel ist es“, so die Veranstalter, „Räume zu öffnen – auch für ein anderes Leben.“ Die Romanfigur „Aurelia Steiner“ der Autorin Marguerite Duras hat ihr reales Vorbild in Kindern, die im Lager zur Welt kamen, während ihre Mütter starben. Claire Devarrieux notierte im November 1979 (Le Monde, Paris): „Aurelia Steiner schreibt Briefe einer unmöglichen Liebe an einen Mann, der alle nur denkbaren Tode gestorben ist und den sie in den Körpern der anderen sucht. Sie ist ‚instruiert über die Existenz des Schmerzes‘, wie Anne-Marie Stretter, wie Alissa in Detruire, dit-elle. Sie spricht die Wahrheit wie die Frau in Le camion, sie ist gefährlich und wahnsinnig, denn sie kennt das Vergessen nicht. Marguerite Duras ist wie sie. Sie liebt, sie wird sich bis in alle Ewigkeit des Massakers an den Juden erinnern.“ „Was bedeutet es,“ fragen das Team und die KünstlerInnen, „nach 58 Jahren hier in der ROTTSTR5 der Befreiung von Auschwitz zu gedenken? Kulturelle und menschliche Bezüge, die in der Zeit des Nationalsozialismus abgerissen und ausgelöscht wurden, Künstlerinnen und Künstler, die verfolgt, deportiert, ermordet wurden – wie leben sie als Erinnerungsfäden weiter und reichen in die Gegenwart hinein?
Der konkrete Raum der Hallen der ROTTSTR5 wird das Ausgangsmedium sein, in dem wir den medialen Fäden der Sprache und der Musik nachgehen, um auszuloten, wie sich der aktuelle Raum und der Erinnerungsraum überlagern.
Mit dem Werk „Kol Nidrei“ von Max Bruch, das um 1880 entstand und von hebräischen Melodien beeinflusst wurde, wird der Faden zur jüdischen Tradition aufgenommen.
Die Klaviersonate von Gideon Klein, der von Theresienstadt nach Auschwitz deportiert und im Außenlager Fürstengrube starb, wird in der Aufführung lebendig.
Die „Aurelia Steiner“-Texte von Marguerite Duras thematisieren das Weiterleben nach Auschwitz. Im Film und im szenischen Environment gehen aktuelle Orte ein spannungsreiches Verhältnis zu den Erinnerungen der Hauptfigur ein, die an verschiedenen Orten ihre biografischen Fäden neu rekonstruiert. Vage Erinnerungsfragmente und Überlieferungen sind Anknüpfungspunkte, um die die existentielle Suche nach der Identität kreist.
Die Brüchigkeit der Sprache nach 45, die zugleich aber auch ein wichtiges Mittel ist, um sich darin kulturell zu beheimaten, sich auszudrücken und sich existentiell selbst zu vergewissern, ist Thema in den Gedichten von Lotte Paepke, Rose Ausländer, Johanna Moosdorf ,Nelly Sachs und Paul Celan.
Musikalische Improvisationen schaffen einen „Echoraum“ zu den Gedichten. Das Gedicht „Heimat“ von Paul Celan wird in einem rezitativen Sprechgesang neu interpretiert.
Die Zen-Installation von Andrzej Kuczminski verdeutlicht metaphorisch die Zeit, die verstreicht, von Moment zu Moment, von Tag zu Tag und verknüpft so die Vergangenheit mit der Gegenwart. Sie lädt ein, sich gerade auch im Gedenken im Hier und Jetzt zu verorten und offen dafür zu sein. Eine suprematische Erfahrung.“
Szenisches Environment – Inszenierung Britta Meier
Akkordeon – Improvisation – Anja Kreysing
Violoncello – Improvisation – Christiane Conradt
Stimme – Improvisation – Rachel Seifert
Klavier – Susanne Frenzel Wohlgemuth
Eintritt frei – Spenden sind willkommen.