Sonntag 05.04.09, 12:00 Uhr
Staatsräson des Verfassungsbruchs

Die Nato darf nicht 70 werden!


Etwa 70 BochumerInnen sind gestern früh zusammen mit mehr als 900 weiteren DemonstratInnen mit dem Sonderzug nach Kehl gefahren, um gegen das Kriegsbündnis NATO zu protestieren. Dort wurden sie von hochgepanzerten PolizistInnen empfangen. Auf der Auftaktkundgebung provozierten Dutzende von bewaffneten „KonfliktmanagerInnen“ der Polizei die DemonstrantInnen. Nach einem kurzen Marsch durch die Innenstadt von Kehl versperrte eine Phalanx von Wasserwerfern und Hundertschaften der Poizei den Weg über die Europabrücke nach Strasbourg. In Baden-Baden, Kehl und Strasbourg erlebten DemonstrantInnen und EinwohnerInnen ein Ausmaß an Repression, das nahtlos an die Maßnahmen beim G-8-Gipfel in Heiligendamm anschloss. Um noch einmal deutlich zu machen, warum es für die Regierenden so wichtig ist, jede Kritik an der NATO zu unterdrücken, veröffentlichen wir das Manuskript des Redebeitrages, den Ralf Feldmann für die Anti-NATO-Aktion vor 8 Tagen in Bochum geschrieben hat:“ Staatsräson des Verfassungsbruchs – Die Nato darf nicht 70 werden!
Wir Menschen im Jahr 2009 haben uns an große Schreckenszahlen gewöhnt. 1,2 Billionen Dollar – 900 Milliarden Euro –  geben die Nato-Staaten zur Zeit jährlich für Militär und Kriege aus, drei Viertel davon die Vormacht USA. 1 Billion: das ist eine 1 mit 12 Nullen. Gleichzeitig haben nach Ermittlungen der Vereinten Nationen über 920 Millionen Menschen keine ausreichende Ernährung – mit steigender Tendenz. Täglich sterben 25 000 Menschen an Unterernährung, darunter 13 000 Kinder.
1 Milliarde Menschen trinken nach Schätzung der Weltgesundheitsorganisation mit Krankheitserregern verunreinigtes Wasser, über 2 Milliarden Menschen haben keinen Zugang zu Latrinen. Deshalb sterben in den ärmsten Ländern jeden Tag rund 5000 Kinder an Durchfallerkrankungen. Gegen diese und andere humanitäre Katastrophen erwarten die Vereinten Nationen nunmehr bereits seit 40 Jahren, dass die Industrieländer 0,7 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für Entwicklungshilfe zur Verfügung stellen. Tatsächlich brachten sie 2008 gerade einmal 0,3 Prozent auf, das sind jährlich 103 Milliarden Dollar. Zur Erinnerung: fast zwölfmal so viel – 1,2 Billionen – geben die Nato-Staaten für ihr Militär und ihre Kriege aus. Sie sind für drei Viertel der weltweiten Rüstungsexporte  verantwortlich. Die Nato-Staaten töten nicht nur in ihren Kriegen: in Jugoslawien, im Irak, in Afghanistan. Mit dem vergeudeten Reichtum milliardenschwerer Hochrüstung töten sie tagtäglich ohne einen Schuss!  Eine Trauer- und  Totenfeier wäre dem 60. Gründungsstag der Nato  angemessen.

Was gäbe es zu feiern? Die alte Nato der West-Ost-Konfrontation mit ihrer Strategie der massiven Vergeltung und des nuklearen Erstschlages? Der Einsatz der Mittelstreckenraketen in Europa hätte von Land und Menschen nur Schatten und vielleicht noch Asche übrig gelassen, und doch war dies das Konzept zur Verteidigung von freedom and democracy. Der nukleare Erstschlag ist für die Nato weiter unverzichtbar: das haben Merkel und Sarkozy jüngst in einer gemeinsamen Initiative für den Natogipfel bekräftigt. In Büchel in der Eifel lagern die  Atombomben für deutsche Kampfflugzeuge.

Wenn wir 60 Jahre zurückschauen: Sollen wir das militärische Bündnis von Demokraten zum Schutz von Freiheit und Demokratie bejubeln? Die faschistischen griechischen, türkischen, portugiesischen Obristen, die im Nato-Bündnis wohl gelitten blieben, obwohl sie Grund- und Menschenrechte mit ihren Stiefeln zertraten: Wie freiheitlich-demokratisch waren sie denn?

Sollen wir etwa feiern, dass aus der Friedendividende, die wir am Ende des Kalten Krieges vielleicht doch erhofft hatten, nie etwas geworden ist?  Nie etwas werden konnte, weil die eigentliche Bestimmung des Nato-Bündnisses mit dem Ende der Blockkonfrontation keineswegs aufgegeben ist: die Verteidigung und Durchsetzung der wirtschaftlichen Interessen und Hegemonieansprüche des westlichen Kapitalismus, – jetzt  weit über das Bündnisgebiet hinaus, weltweit. Die Bekräftigung dieses strategischen Konzepts, das so neu gar nicht ist, steht im Mittelpunkt der Feiern zum 60. Geburtstag der Nato. Es ist ein Konzept, das nur noch Lippenbekenntnisse zur UN-Charta und zum Vorrang des Friedenssicherungssystems der Vereinten Nationen andeutet, in Wirklichkeit aber unverhüllt für die Umwidmung des Verteidigungsbündnisses in ein weltweit operierendes Interventionsbündnis eintritt, das sich durch die UN-Charta nicht gebunden fühlt,  die Legitimation für eigene Kriege aus eigener Willkür schöpft und völkerrechtswidrige Präventivkriege nicht ausschließt.

Die EU marschiert zunehmend integriert im Nato-Gleichschritt mit. Aufrüstung gehört zu den Grundpflichten der EU-Staaten nach dem Vertrag von Lissabon. Bis 2010 soll eine europäische Einsatztruppe mit bis zu 60 000 Soldaten unter einheitlichem Kommando einsatzbereit sein, daneben 13 „battle-groups“ von jeweils 1 500 Elitesoldaten. Das „European-Defense-Paper“ konkretisiert mögliche Szenarien: nukleare Optionen werden dabei ebenso wenig ausgeschlossen wie weltweite Einsätze zur Sicherung des europäischen Wohlstands zum Beispiel bei Störung der Ölversorgung oder anderer Waren- und Handelsströme. Das deutsche Verteidigungsweißbuch 2006 nimmt diese Optionen für die Bundeswehr ausdrücklich auf: Krieg für Öl und andere Rohstoffe wird vorausgeplant. In einer Begrüßungsadresse an Barack Obama  erklärt sich die EU nun bereit, stärker als bisher bei internationalen Militäreinsätzen mitzuwirken, wobei technische und rechtliche Schwierigkeiten bei Interventionen „keine Entschuldigung für Nichthandeln sein dürfen“. Diese Opferung des Friedensvölkerrechts ist das Geburtstagsgeschenk der herrschenden westlichen Politiker zum 60. der Nato.

Das politische Establishment  unseres Landes feiert mit Inbrunst und Überzeugung. Für sie gehört die Nato gleichsam zur Staatsräson Deutschlands. Bündnistreue, Kriegsfähigkeit und Anpassung an die Vormacht USA sind für sie der Lackmustest für sogenannte Politikfähigkeit. Für Christ-, Sozialdemokraten und Liberale ist das keine Frage. Die Grünen schwanken noch hier und da, ob sie sich vom wamstragenden Straßenkämpfer außer Diensten aus seiner Grunewaldvilla heraus bündnispolitisch gleichschalten lassen  und dem schon gleichgeschliffenen neuen außenpolitischen Bannerträger folgen wollen, der aufs Außenamt versessen den bündnisfähigen Narziss mit Nadelstreifen so staatstragend darzubieten versteht.

Wenn die Nato zur deutschen Staatsräson gehört, dann ist dies mehr und mehr eine Staatsräson des Verfassungsbruchs und der Völkerrechtsverletzung. Durch Art. 25 Grundgesetz ist das Völkerrecht und damit das Friedenssicherungsrecht der UN-Charta Bestandteil des deutschen Rechts und geht deutschen Gesetzen vor. Dazu gehört das Gewaltverbot im Umgang der Staaten miteinander. Davon gibt es nur zwei Ausnahmen: das Selbstverteidigungsrecht im Fall eines bewaffneten Angriffs oder vom Sicherheitsrat zur Wahrung des Weltfriedens beschlossenen Zwangsmaßnahmen. Wenn sich die Nato das Recht herausnimmt, aus eigener Legitimation Präventivkriege  zu führen, bricht sie das Völkerrecht, unsere Regierung bricht unsere Verfassung.

Der Nato-Krieg gegen Jugoslawien ohne UN-Mandat war ein Bruch des Völkerrechts. Die Unterstützung der USA und der anderen Kriegsländer der Nato im völkerrechtwidrigen Krieg gegen den Irak 2003 unter Berufung auf Nato-Bündnispflichten mit der Infrastruktur unseres Landes, mit der Gewährung von Überflugrechten, mit der Hilfe des Bundesnachrichtendienstes und der Ersetzung amerikanischer Krieger bei der Bewachung von US-Militäranlagen, all das war  Beihilfe zu einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg. Wo war die dem Grundgesetz geschuldete Kritik der politisch Herrschenden  am vorsätzlichen Bruch des Völkerrechts durch die Foltervormacht und andere Nato-Staaten? Sogar himmelschreiende Menschenrechts- und Kriegsverbrechen wie in Guantanamo und Abu Ghraib wurden kritiklos beschwiegen, die Verschleppung deutscher Staatsangehöriger und Foltertransporte durch unser Land hingenommen. Für die Herrschenden in unserem Land geht Nato vor Menschenwürde. Wer hätte denn angesichts der Menschenrechtsverbrechen das Bündnis in Frage gestellt? Frau Merkels Mut gipfelte in dem Wunsch, Guantanamo   „langfristig“ aufzulösen. Nein: das Grundgesetz erklärt die Menschenwürde immer, sofort und unter allen Umständen für unantastbar! Verstehen wir nun, warum sich die Regierung der Großen Koalition im vergangenen Jahr weigerte, deutsche Kriegsbeteiligung der Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs, der Gerichtsbarkeit der Vereinten Nationen, zu unterstellen? Dabei schreibt Artikel 24 III Grundgesetz  immer schon vor, dass Deutschland einer „umfassenden“ internationalen Gerichtsbarkeit beitritt. Danach sollen alle Gegenstände internationalen Streits zur Zuständigkeit eines Völkerrechtsgerichts gehören, also doch auch und vor allem militärische Konflikte. Wer hier Streitkräfte ausschließt, setzt sich nicht nur in Widerspruch zum Grundgesetz, sondern führt etwas im Schilde: Er will Militär straf- und sanktionslos so einsetzen können, wie es das Völkerrecht verbietet. So hat etwa der Internationale Gerichtshof 1996 in einem völkerrechtlichen Gutachten auf Anforderung der UN-Generalversammlung entschieden, der Einsatz von Atomwaffen verstoße gegen das humanitäre Kriegsvölkerrecht. Dennoch hielten Merkel und Sarkozy vor wenigen Wochen in gemeinsamen Strategieüberlegungen für den 60. Nato-Geburtstag an der nuklearen Erstschlagstrategie fest. Liegen Hiroshima und Nagasaki schon so weit zurück?

An ihrem 60. Geburtstag rüstet sich die Nato weiter zu weltweiten Kriegen. Mit denen, die zu Tode rüsten, ist kein Frieden zu machen. Gegen den Irrsinnsweg der Kriege stehen die Forderungen der Friedensbewegung:

  • Die uneingeschränkte Anerkennung internationalen Rechts und der UN-Charta mit ihrem Gewaltverbot, dem Verbot von Angriffs- und Präventivkriegen, und die vorbehaltlose Anerkennung des Statuts des Internationalen Gerichtshofs
  • Die Ächtung aller imperialistischen Kriege um Öl, Rohstoffe und jeglichen wirtschaftlichen Vorteil und Vorrang
  • Abrüstung und striktes Rüstungsexportverbot, Einhaltung und Ausbau aller bestehenden Abrüstungs- und Rüstungskontrollabkommen
  • Kollektive Sicherheitssysteme an Stelle von konfrontativen Blockbündnissen wie der Nato: keine weitere Nato-Ausdehnung gegen Russland und andere Staaten
  • Regionale Konferenzen für Sicherheit und Zusammenarbeit zu vorsorgendem Konfliktabbau besonders im Nahen Osten, für die Kaukasus-Region und Afghanistan
  • Abzug von Kriegs- und Besatzungstruppen aus Afghanistan und Irak zugunsten entwicklungspolitischer Konzepte, die regionale Selbstbestimmung fördern
  • Ausstieg Deutschlands aus der nuklearen Teilhabe der Nato, dem militärpolitischen Teil des EU-Vertrages und dem Konzept militärischer Eingreiftruppen

Weltweite  Friedens- und Entwicklungsbündnisse statt weltweite Kriege! Die Nato darf nicht 70 werden“