Mittwoch 01.10.08, 19:00 Uhr
Erinnerung an eine exemplarische Antifa-Aktion in Bochum vor elf Jahren

Das Schweigen über den organisierten Massenmord thematisieren


majdanek-4.jpgDas Polit-Cafè Azzoncao erinnert daran, dass im Dezember 1996 bekannt wurde, dass die ehemalige stellvertretende Oberaufseherin des Vernichtungslagers Majdanek, Hermine Ryan, aus ihrer Haft in Mühlheim an der Ruhr entlassen worden war. Ihre Strafe war von der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Dortmund zur Bewährung ausgesetzt worden. (SZ 16.12.1996) Aus der Beilage der Süddeutschen Zeitung vom 13.12.1996 ging weiter hervor, dass sie, betreut durch die SS-Organisation „Stille Hilfe“, mit ihrem Mann in Bochum-Linden lebte. Im darauf folgenden Jahr 1997 nahmen autonome Antifas der „kleinen Strolche“, Mitglieder der „Roma UnterstützerInnen Gruppe“ und diverse Autonome ihre Anwesenheit in Bochum zum Anlass die Shoa und das Schweigen über den organisierten Massenmord zu thematisieren. Heraus kam eine Vielzahl von mit einander abgestimmten Aktionen, die sich alle in Bochum-Linden in unmittelbarer Nähe zum Wohnort der NS-Massenmörderin abspielten. Um an diese exemplarische Aktionsform zu erinnern, veröffentlichen wir nachfolgend den damaligen Artikel von Gaby Hommel aus der Zeitschrift „Konkret“ 8/1997 und einige Fotos. Weitere Archivmaterialien zur Aktion hat freundlicher Weise die autonome Antifa „die kleinen Strolche“ dem Polit-Cafe Azzoncao überlassen. Auf Anfrage sind dort Kopien erhältlich.

Artikel aus der Zeitschrift Konkret 8/1997

„Seid Ihr Juden?“
Früher trug sie eisenbeschlagene Stiefel und Peitsche; jetzt sitzt sie
im Rollstuhl und kann kaum noch sprechen. Damals war sie an der
Vernichtung einer Viertelmillion Menschen in Majdanek beteiligt; heute
gilt sie als bemitleidenswerte Frau. Welche Möglichkeiten gibt es, mit
einer solchen Nachbarin umzugehen?
Aufgeworfen wird die Frage kurz vor Weihnachten letzten Jahres durch
eine groß aufgemachte Reportage im Magazin der „Süddeutschen Zeitung“;
gefolgt von einem versteckten Bericht im Manteltteil der „Westdeutschen
Allgemeinen Zeitung“, dem Monopolblatt im Ruhrgebiet. „Hast Du gelesen,
dass diese ätzende KZ-Scherge hier in Bochum haust?“ will ein Punk in
der Straßenbahn wissen. „Da müssen wir mal drüber diskutieren“, heißt es
auf einem Fest der autonomen Szene zu Sylvester. Während zwischen den
Ständen des Wochenmarktes in Linden, keine zehn Schritte von der
Altenwohnung entfernt, in der die ehemalige SS-Aufseherin Hermine
Braunsteiner seit ihrer Haftentlassung im April 1996 lebt, vor allem zu
hören ist: „Warum wird die alte Frau nicht in Ruhe gelassen? Die hat
ihre Strafe doch abgesessen.“
Fünfeinhalb Jahre lang dauerte der Prozess, mit dem von mehr als 1500
Männern und Frauen, die im Vernichtungslager Lublin/Majdanek ihre
mörderische Arbeit taten, gerade einmal zehn vor einem deutschen
Richtertisch erscheinen mussten. Die fünf männlichen Angeklagten, denen
die Staatsanwaltschaft u. a. gemeinschaftlichen Mord in 1000 Fällen
sowie die aktive Teilnahme an Massen-Exekutionen vorwarf, kamen mit
Haftstrafen von drei bis zehn Jahren davon. „Krowa“, die Kuh,
beschuldigt der Selektion von Frauen und Kindern für die Gaskammern,
starb noch während des Verfahrens, Rosa Süß, der aufgrund des Todes von
Zeuginnen nicht mehr nachgewiesen werden konnte, eine Frau und ein Kind
erschossen zu haben, wurde freigesprochen. Hildegard Lächert, nach
Aussagen einer ehemaligen Lagerinsassin die „widerlichste und brutalste
SS-Lageraufseherin“ in Majdanek und von ihren Opfern nicht umsonst die
„Blutige Brigitte“ genannt, konnte neben anderer grausamer Taten zur
Last gelegt werden, dass sie einer hochschwangeren Frau das Kind von
einem Schäferhund aus dem Leib hatte reißen lassen. Sie erhielt eine
Freiheitsstrafe von zwölf Jahren. Während Hermine Braunsteiner, rechte
Hand und persönliche Freundin der 1948 in Polen hingerichteten
Oberaufseherin im Lager, berüchtigt für die Vorliebe, Gefangene mit
ihren eisenbestückten Stiefeln niederzutreten und deshalb auch „die
Stute“ genannt, zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Dreimal
lebenslänglich hatte die Staatsanwaltschaft gefordert. U. a. wegen Mord
in 1181 Fällen und Beihilfe zum Mord an 705 Menschen.
Die skandalösen Urteile, im Juli 1981 vom damals Vorsitzenden Richter
der 17. Großen Strafkammer des Düsseldorfer Landgerichtes entgegen
seiner persönlicher Rechtsauffassung, mit zitternder Stimme und Tränen
in den Augen gesprochen; Verhandlungsdauer und Prozessaufwand, die
einmalig in der juristischen Verarbeitung von NS-Verbrechen in
Deutschland sind; der Umstand, dass es das bislang einzige Verfahren
gegen weibliche KZ-Bedienstete in der Geschichte der Bundesrepublik ist:
Alles dies ist Thema einer Runde, die sich erstmalig Anfang Februar in
einem Bochumer Kulturzentrum zusammenfindet. Und natürlich kommt auf den
Tisch, was der aktuelle Anlass des Treffens ist. Nämlich die Freilassung
jener Frau, die aufgrund der Charakteristika und besonderen Bedeutung
des so genannten „Majdanek-Prozess“ zum Symbol für das Grauen in den KZs
geworden ist. Einer unbelehrbaren Täterin, die ihre persönliche Schuld
nie eingestanden oder gar bereut hat sondern in ihrem Schlusswort vor
dem Düsseldorfer Schwurgericht sagte: „Ich werde mein ganzes restliches
Leben dran zu tragen haben, dass ein Schicksal mich zum Glied einer
Kette machte, die zu zerreißen ich zu klein und deren Lauf aufzuhalten,
ich nicht fähig war.“
Als jüngstes von sieben Kindern 1919 in Wien geboren, stammt Hermine
Braunsteiner aus „einfachen Verhältnissen“. Nach eigenen Angaben wollte
sie ursprünglich Krankenschwester werden, landete dann jedoch nach
verschiedenen anderen Hilfstätigkeiten als 20-jährige in einer
Munitionsfabrik in Berlin. Von dort aus meldete sie sich als Aufseherin
in das nahegelegene Konzentrationslager Ravensbrück. Drei Jahre später
nach Majdanek versetzt, wurde sie binnen kurzen zur „Stellvertretenden
Schutzhaftleiterin“ befördert, für ihre besonderen Verdienste in dieser
Zeit mit dem „Kriegsverdienstkreuz 2. Klasse“ ausgezeichnet und
schließlich als Oberaufseherin ins Lager Genthin geschickt. wo ihr das
Kommando über 14 SS-andere Aufseherinnen erteilt wurde. Bei Kriegsende
floh sie nach Wien zurück, wurde kurzfristig verhaftet, wieder
freigelassen und letztlich wegen der Misshandlung von Gefangen in
Ravensbrück zu drei Jahren schwerem Kerker verurteilt. 1958 lernte sie
den amerikanischen Soldaten Russel Ryan kennen, reiste mit ihm
unbehelligt über die Kanada in die USA ein, wo das mittlerweile
verheiratete Paar 1964 von Simon Wiesenthal aufgespürt wurde. Fast 10
Jahre brauchte es, bis die Bundesrepublik die Auslieferung beantragte;
weitere fünf Monate bis sie vollzogen wurde.
„Für mich ist das purer Zufall, dass sie überhaupt geschnappt und
verurteilt worden ist“ faßt ein Antifa-Aktivist seine Bewertung der
strafrechtliche Verfolgung von NS-Tätern und Täterinnen zusammen. „Den
meisten Nazi-Verbrechern ist doch überhaupt nichts passiert.“ Letzteres
ist unstrittig in der Gruppe, die sich anlässlich des Zuzugs von Hermine
Braunsteiner in die Stadt zusammengefunden hat. Ebenso der Fakt, dass
sie vergleichsweise lange hinter Gittern gesessen hat. Hinzu kommt, dass
die ehemalige „Stute von Majdanek“ heute eine 78-jährige, nach der
Amputation eines Unterschenkels an den Rollstuhl gebundene, schwerkranke
und vom Tode gezeichnete Frau ist. „Deshalb breche ich noch lange nicht
in Tränen aus“ ereifert sich eine SDAJlerin und schlägt vor, Hermine
Braunsteiner so lange auf die Bude zu rücken, bis sie die Koffer packt.
Der Rest des Kreises macht deutlich, dass auch sonst niemand der
Anwesenden vor Mitleid zerfließt, will aber weder „eine Oma die Treppe
runterwerfen“ noch sich das Problem, eine NS-Massenmörderin zur
Nachbarin zu haben, einfach vom Hals schaffen. Was hieße, sich dem
unbeschreiblichen Horror des Nationalsozialismus genauso zu entziehen
wie seinen Konsequenzen.
Das Lager Majdanek wurde 1941 auf Befehl Heinrich Himmlers erbaut und
hieß offiziell „Kriegsgefangenenlager der Waffen-SS“. Tatsächlich wurden
neben sowjetischen Soldaten, Polen und Polinnen, Roma und Sinti vor
allem jüdische Menschen aus sämtlichen der von Deutschland besetzten
Länder dorthin deportiert. Die Hälfte von ihnen, d.h. mindestens 250.000
Männer, Frauen und Kinder kam zu Tode. In einer der sieben Gaskammern,
durch Erschießen, Erhängen oder Todesspritzen, durch Hunger, Krankheit
oder Grausamkeiten des Wachpersonals. Ihre Knochen wurden zum Düngen der
umliegenden Felder genutzt. Der Gestank verbrannten Menschenfleisches
lag Tag für Tag über der Umgebung. Am 3. Novemer 1943, dem „Erntefest“
in Majdanek, kam der Geruch von frischem Blut dazu. Kniehoch stehend in
Meter um Meter langen Gräben, welche die ersten der rund 17.000
Exekutierten an diesem Tag hatten ausbuddeln müssen. Frauen, die in die
Gruben springen mussten, hielten ihre Kinder hoch über dem Kopf. Damit
sie nicht sofort ertranken. Erst nach den Schüssen. Im Blut der Mutter.
Arbeitskreis „Gegen das Vergesse“ì nennen sich im Ergebnis-ihrer
Diskussionen die wenigen Männer und Frauen, die über die Anwesenheit
einer der Täterinnen in der Stadt nicht schweigend hinweggehen wollen.
Zu ihrem Ziel erklären sie: „Wir wollen die Tatsache, dass Hermine
Braunsteiner, die die Massenvernichtung im NS persönlich aktiv
mitgetragen hat, hier lebt und leben kann. zum Anlass nehmen, uns an das
Leben der verfolgten, vertriebenen und vernichteten Menschen zu
erinnern. Wir wollen die Frage stellen, was ihr Tod für uns heute
bedeutet und dazu beitragen, dass die Geschichte der Ermordeten und die
Geschichte ihres Widerstandes gegen die Vernichtung auch hier ist.“ Als
Mittel zum Zweck lässt sich die Gruppe eine ungewöhnliche Folge von
Aktionen einfallen.
Es beginnt an Pfingstmontag. Abends gegen 22 Uhr treffen sich ein gutes
Dutzend Personen auf dem Marktplatz von Bochum-Linden und projezieren
großflächige Bilder an die Wand des gegenüberliegenden Hauses. Eine
Serie zeigt Ausschnitte aus der Wirklichkeit von Majdanek, Wachtürme und
Zäune, Appell und Selektion von Menschen; eine andere Reihe Szenen aus
dem damaligen Linden, das Alltagsleben auf der Straße, jüdische
Geschäfte, die arisiert wurden, Häuser, aus denen jüdische Familien
vertrieben und deportiert wurden. Die Botschaft ist eindeutig und müsste
auffallen. Doch drehen Passanten kaum den Kopf. Keines der zahlreichen
Autos auf der verbeiführenden Straße bremst ab. Nicht einmal eine
vorbeikommende Polizeistreife hält an, um nach einer Erlaubnis für die
nächtliche Dia-Vorführung zu fragen.
An den folgenden sechs Tagen wird die Aktion wiederholt. Abend für Abend
tauchen rund zwei Stunden lang die Bilder auf. Doch geschieht wenig
anderes als beim ersten Mal. Zwar schlendern die Taxi-Fahrer von ihrem
Halteplatz am Markt irgendwann einmal rüber und fragen, was das Ganze
soll. Auch die Besitzer einer italienischen Eisdiele zeigen verhaltenes
Interesse. Doch ein wirkliches Gespräch entwickelt sich genauso wenig
wie mit einer Reihe von Jugendlichen, die kurz gucken, was geboten wird;
dann aber schnell entscheiden: „Wie langweilig!“ Oder: „Das ist Kunst.
Lass uns abhauen!“ Trotzdem scheint es nur auf den ersten Blick so, als
würde das Geschehen und sein Hintergrund im Stadtteil nicht bemerkt.
Denn allzu demonstrativ schauen viele der vorbeikommenden Leute zur
Seite. Kaum vorstellbar ist, dass es die BewohnerInnen des als
Projektionsfläche genutzten Hauses eine Woche in ihren Wohnungen hielt,
wenn sie nicht bereits wüssten, was vorgeht. Ebenso die Rentner und
Hundebesitzer, die mehr oder minder zufällig am Rande des Marktplatzes
stehen bleiben, um ein Schwätzchen zu halten. Unter ihnen ist ein etwa
70-jähriger ehemaliger Bergmann. Mit seinem alterschwachen
Cockerspaniel, den er „Daisy“ ruft, gehört er zu den ganz wenigen
Menschen im Stadtteil, die sich auf ein längeres Gespräch einlassen.
Dabei erzählt er, als junger Mann in einem der Lindener Geschäfte
gearbeitet zu haben, die von ihren jüdischen Besitzern aufgegeben werden
mussten. Zu einer Zeit allerdings, als es bereits in arischer Hand war.
Und dann, nach Kriegsende, habe „der Jude“ plötzlich vor der Tür
gestanden und Rückgabe bzw. Entschädigung gefordert. „Ja sagen Sie mal,
wo kam der eigentlich noch her?“
In der Woche nach der Bilderschau werden im Stadtteil Hunderte von
Plakaten verklebt. Darauf ist das Foto eines Mannes in gestreifter
Häftlingskleidung zu sehen, der mit erregtem Gesicht, erhobener Hand und
ausgestrecktem Finger auf einen Uniformierten zeigt, während ein zweiter
Wachmann im Hintergrund die Szene mit mißtrauischem Blick verfolgt. Das
ist alles. Keine Überschrift, kein Text erklärt die Bedeutung der in
scharz/weiß und einem auffälligen Querformat erstellten Anschläge.
Binnen kurzem hängen sie an fast jeder Hausecke, jedem Stromkasten,
Laternenpfahl und Zigarettenautomaten, vor allem rund um den Komplex von
Pflegeheim. Krankenhaus und dem Altenwohnheim, in dessen zweitem Stock
Hermine Braunsteiner gemeinsam mit ihrem Mann in einer
Zwei-Zimmer-Wohnung lebt. Das Haus ist in Besitz der evangelischen
Kirche, doch werden die Wohneinheiten über das Sozialamt vergeben und
von der Stadt finanziert.
„Ach, Ihr seid das schon wieder“, überrascht der Besitzer von „Daisy“
einen der Plakatiertrupps bei der Arbeit. Und wie bereits bei früheren
Begegnungen mit ihm, ist der Mann an einem Schwatz interessiert. Worauf
die Aktivitäten der Gruppe eigentlich hinauslaufen sollen, will er
wissen. Und nachdem ihm dies zum wiederholten Male erklärt worden ist,
kommt die entscheidende Frage: „Jetzt sagt mal ganz ehrlich. Seid Ihr
Juden?“ In die gleiche Richtung denkt auch eine Gruppe türkischer
Jugendlicher, denen zwei junge Frauen beim Anbringen der Plakate
begegnen. „Ihr Juden und wir müssen zusammenhalten“, bringen sie ihre
Überzeugung auf den Punkt.
Der nächste Schritt, die Lindener Bevölkerung mit der Tatsache zu
konfrontieren, daß die Vergangenheit noch lebt und sich in Gestalt einer
ehemaligen SS-Massenmörderin vor der Haustüre niedergelassen hat,
erfolgt in Form einer Hauswurfsendung. Neben nüchternen Fakten über
Majdanek und einer kurzen Information über ihre Person steht u.a. zu
lesen: „Dass über die Anwesenheit von Hermine Braunsteiner in dieser
Stadt hinweggegangen wird, steht für uns in einem engen Zusammenhang mit
dem Verdrängen deutscher Geschichte und dem „Vergessen“ der Ermordeten.“
Verbunden ist das Ganze mit der Einladung zu einer Versammlung auf dem
Marktplatz und der Erklärung. „Die Veranstaltung soll darüber
informieren, was Majdanek war. Sie soll aber auch Fragen danach
aufwerfen, welche Bedeutung die Menschenvernichtung im NS heute für uns,
für diese Gesellschaft hat.“
Als Kurzankündigung erscheint der genannte Termin auch im Bochumer
Lokalteil der WAZ. Ein Halbes Jahr nach Bekanntwerden des Zuzugs von
Hermine Braunsteiner in die Gemeinde, drei Monate nach Gründung des
Arbeitskreises „Gegen das Vergessen“ und zwei Wochen, nachdem er mit
seinen Aktivitäten in Linden begann, ist es die erste Notiz, die an
dieser Stelle zum Thema erfolgt. Aus welchem Grund erklärt ein Mitglied
der Stadtredaktion sinngemäß mit den Worten: „Wir haben lange darüber
diskutiert und uns dann entschieden, über die Sache nichts zu bringen.“
Welche Argumente dafür ausschlaggebend waren, ist nicht zu erfahren.
Doch immerhin nimmt ein Redakteur an der Veranstaltung auf dem Lindener
Markt teil und veröffentlicht später einen Vierspalter unter der
Unterschrift: „Die Schuld der Schuldigen. Stilles Erinnern an das
Konzentrationslager Majdanek.“
Tatsächlich verläuft die Veranstaltung ganz und gar nicht
stillschweigend. Schon das Aufstellen von Tischen bzw. Stühlen und das
Installieren einer Lautsprecheranlage sorgen für erstes Hinsehen. Einige
Schaulustige bleiben stehen; wenngleich in sicherer Entfernung auf einer
Brüstung oberhalb des Platzes oder am Rande zur vierspurigen
Durchgangsstraße hin. Als zwei Mitglieder des Arbeitskreises und ihr
Gast Heiner Lichtenstein – Journalist, Buchautor und langjähriger,
aufmerksamer Beobachter des Majdanek-Verfahren – vor den Mikrophonen
Platz nehmen, haben sich rund 80 Personen versammeln. Darunter viele aus
dem Freundes- und Bekanntenkreis der VeranstalterInnen sowie Mitglieder
antifaschistischer und antirassistischer Initiativen. Weniger zahlreich
erschienen sind VertreterInnen der VVN und der jüdischen Gemeinde.
Jeweils einen Sprecher bzw. eine Sprecherin haben geschickt eine Gruppe,
die Gräber von Zwangsarbeitern in der Stadt pflegt sowie der Verein
„Erinnern an die Zukunft“, auf dessen Betreiben hin sich die Stadt
Bochum kürzlich zum ersten Mal veranlasst sah, ehemalige jüdische Bürger
und Bürgerinnen zu einem offiziellen Besuch einzuladen. Zu den
unbekannten Gesichtern zählen ein Dutzend Kinder und Jugendliche mit
Baseball-Mützen auf dem Kopf und Skateboards unter dem Arm sowie eine
zweite, kleinere Gruppe 18-20jähriger. Sonstige Bürger und Bürgerinnen
aus dem Stadtteil sind an einer Hand abzuzählen.
Zur Einführung in die Veranstaltung wird in knappen Worten dargestellt,
welche Aktivitäten der Arbeitskreises „Gegen das Vergessen“ bisher
unternommen hat, und in welchem Verhältnis diese zur Person Hermine
Braunsteiner stehen. „Was wir wussten war, dass sie auch während des
Prozesses und der Jahre in Haft ihre Schuld nicht anerkannt hat, dass
sie ungebrochen aus der Zeit hervorgegangen ist. Insofern sind wir der
Meinung, dass sie ihre Taten persönlich repräsentiert. Auch heute noch.
Und insofern finden wir es auch völlig legitim hier zu sitzen und in
ihrer örtlichen Anwesenheit daran zu erinnern, was war.“
Rund 320.000 Menschen lebten 1929 in Bochum, darunter 1228 jüdische
Männer und Frauen, von denen wiederum 22 zum Teil bereits seit
Generationen im Stadtteil Linden zu Hause waren. Dazu zählten Sophie und
Moses Röttgen, die ein Papier- und Dekorationsgeschäft betrieben,
welches später von ihrer Tochter Elsa und dem Schwiegersohn Alexander
Adler übernommen wurde. Letzterer wurde in der Reichsprogromnacht
verhaftet und nach Oranienburg gebracht, wo er wenig später an einer
nicht behandelten Blutvergiftung starb. Seine Frau und deren Mutter
tauchen Anfang der vierziger Jahre noch im amtlichen Bochumer Adressbuch
auf. Allerdings sind ihre Namen bereits mit dem damals vorgeschriebenen
Zusatz „Sarah“ zur Identifikation jüdischer Frauen versehen. Später
werden beide Frauen getrennt voneinander in eines der so genannten
„Judenhäuser“ gebracht. Sieben dieser Sammelstellen, mit denen die
Deportationen in die Konzentrationslager vorbereitet wurden, gab es
alleine Bochum. Sophie Röttgen kam nach Theresienstadt, wo sie ermordet
wurde. Ihre Tochter konnte nach Frankreich fliehen, kam nach dem Krieg
nach Bochum zurück und verstarb schließlich bei ihrem Sohn in England.
Auf eigenen Wunsch beerdigt wurde sie auf dem Friedhof der ehemaligen
jüdischen Gemeinde Bochum/Witten.
Diese und die Geschichte der Familie Lipper, deren Textilgeschäft kaum
einen Steinwurf vom heutigen Markt in Linden zu finden war; die
Erlebnisse von Emil Röttgen, einem Metzger, der bereits 1933 als
„unzuverlässige Person“ vom Bochumer Viehmarkt vertrieben wurde; einige
Fakten aus dem Leben von Max Salomon, der aus unbekannten Grund ab Mitte
der dreißiger Jahre aus den amtlichen Unterlagen der Stadt verschwindet:
Sie alle wurden binnen weniger Wochen recherchiert und sind entsprechend
unwohlständig. Doch geben sie einen Einblick in das, was noch zu finden
wäre. Vor allem, wenn alteingesessene Lindener sich beteiligen würden.
Wozu der Arbeitskreis „Gegen das Vergessen“ – unterstützt von Heiner
Lichtenstein, der zum weiteren Verlauf des Abend leider wenig Konkretes
beizutragen hat – als eine mögliche Konsequenz seiner Veranstaltung
aufruft. Eine weitere verbirgt sich hinter der Frage der
OrganisatorInnen, ob es wirklich möglich ist, dass die industrielle
Vernichtung von sechs Millionen Menschen nichts anderes hinterlässt als
eben die Toten. „Wir glauben nicht daran“. lautet ihre eigene Antwort,
„sondern dass alles dadurch geprägt ist, wir selbst und die
Gesellschaft. Und dass dies heute vor allem dadurch deutlich wird, dass
sich niemand mehr vorstellen kann, was passiert ist. Oder vorstellen
will. Oder Beides. Es gibt zwar verschiedene Formen des Gedenkens, die
oft aber sehr weit vom realen Leben stattfinden. Weit weg von denen, die
die Vernichtung zu verantworten haben und weit weg von den Betroffenen.“
Auf derart abstrakten Ausführungen – es ist ihren Gesichtern anzusehen –
stehen die nichtsdestotrotz bis zum Ende der Veranstaltung ausharrenden
Skater-Fans wenig. „War okay“, lautet ihr einziger Kommentar zum Ablauf
des Abends. Und es bedarf des Einsatzes einer Bauwagen-Bewohnerin,
selbst mit Abstand jüngstes Mitglieds des ansonsten vornehmlich von
„Alt-Autonomen“ getragenen Initiative „Gegen das Vergessen“, um den
Grund ihres Kommens zu erfahren. Der erste Teil der Entgegnung, wonach
sie aufmerksam geworden seien „auf die komischen Plakate“, die auf
einmal überall gehangen hätten, entspricht den Hoffnungen. Der Zusatz,
wonach „die Teile“ anders als sonst üblich auch kaum abgerissen worden
seien, freut das Herz. Die schlussendliche Erklärung sorgt für
Ernüchterung. Denn nicht etwa die sorgfältig ausgewählte, inhaltliche
Aussage des Plakates, der selbstbewusste Fingerzeig des Opfers auf die
Täter, hatte es den Kinder und Jugendlichen angetan sondern – wie sie
sich ausdrücken – „da stand ja überhaupt nicht drauf, was du kaufen sollst.“

Nachtrag I
Die Veranstaltung auf dem Marktplatz in Linden fand nicht zuletzt
deshalb unter freiem Himmel statt, weil der evangelische Pfarrer im
Stadtteil – bekannt für seine liberale Haltung, etwa wenn es um die
Probleme von Flüchtlingen geht – sich weigerte seinen Gemeindesaal zur
Verfügung zu stellen. Und dies keineswegs, weil ihm die generelle
Auseinandersetzung mit dem Nationalismus nicht genehm ist sondern einzig
des Umstandes, dass diese aus Anlass und in örtlicher Nähe von Hermine
Braunsteiner stattfindet. Eine Haltung, die fortgedacht bedeutet:
Solange eine der TäterInnen anwesend ist, darf der Holocaust nicht
thematisiert werden. Es ist nur für eine Seite Platz.

Nachtrag II
Beim Arbeitskreis „Gegen das Vergessen“ hat sich bis heute kein Mann und
keine Frau aus Linden gemeldet, der oder die etwas zu sagen hätten.

Nachtrag III
Die Skater aus Linden haben sich mit ihren Kollegen aus dem
Nachbarstadtteil zusammengetan, um gemeinsam etwas gegen die verstärkten
Versuche der JN zu unternehmen, in den Schulen und Jugendheimen der
Gegend Nachwuchs zu rekrutieren.


Generelle Informationen zum KZ Majdanek und dem Prozess in Düsseldorf:Hermine Braunsteiner-Ryan:
http://de.wikipedia.org/wiki/Hermine_Braunsteiner-RyanKZ Majdanek :
http://de.wikipedia.org/wiki/KZ_Majdanek
http://www.deathcamps.org/lublin/majdanek_d.html
http://www.majdanek.pl/Majdanek — Prozess:
http://www.wdr.de/themen/politik/nrw02/majdanek/infobox/html.php
http://de.wikipedia.org/wiki/Majdanek-Prozess
http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/zeitreisen/515002/
http://www.simon-wiesenthal-archiv.at/02_dokuzentrum/02_faelle/05_braunsteiner.html
http://www.filmzentrale.com/rezis/prozesskk.htm

Fotos durch anklicken vergrößern:

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