Predigt von Pfarrer Jürgen Klute für den Gottesdienst zum Ostermarsch 2007, 09. April 2007 in der Evangelischen Kirche Bochum-Werne, 10.00 Uhr
Montag 09.04.07, 18:00 Uhr

„Es ströme aber das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach.“


Predigttext: Amos 5, 24
„Es ströme aber das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach.“

Liebe Friedensfreundinnen und Friedensfreunde, liebe Gemeinde,

zunächst darf auch ich Sie noch einmal ganz herzlich zu diesem Gottesdienst zum Ostermarsch 2007 begrüßen.

Wenn ich die Nachrichtensendungen der letzten Monate Revue passieren lasse, dann wecken viele der Bilder Erinnerungen an meine Jugend. Nämlich an die Zeit des Vietnamkrieges. Damals in den 1960 und bis Mitte der 1970er Jahre waren täglich Bilder von Kriegsszenen in Vietnam in der Tagesschau zu sehen.

Auch heute laufen wieder fast täglich Bilder militärischer Gewalt über den TV-Bildschirm: aus dem Irak, aus Afghanistan, aus Palästina.

Auch wenn wir hier in der EU seit über 60 Jahren keinen Krieg mehr hatten – die Welt ist in dieser Zeit keineswegs friedlicher und auch keineswegs gerechter geworden – wie die Armutsstatistiken weltweit und vor Ort zeigen.

Und die Lehren, die die deutsche Gesellschaft 1945 nach dem Untergang der faschistischen Diktatur und dem Ende des zweiten Weltkriegs aus ihrer Geschichte ziehen wollte, sind offenbar auch längst über Bord geworfen. Denn mit immer größeren Schritten beteiligt die Bundesregierung die Bundeswehr an internationalen Militäreinsätzen. Erst in den letzten Tagen sind zusätzliche Kriegsflugzeuge der Bundeswehr in Afghanistan gelandet. Der Einsatzauftrag der Bundeswehr ist zugleich ausgedehnt worden.

Doch das ist nur die direkt wahrnehmbare Seite der zunehmenden Militarisierung unserer Gesellschaft. Vor einigen Wochen empfahl Kanzlerin Angela Merkel auf einem Kongress der deutschen Industrie, sich durch Aufkäufe und Beteiligungen stärker um die Sicherung von Rohstoffen für die BRD zu bemühen. Dazu passt, dass die verteidigungspolitischen Richtlinien längst den Schutz von Handelswegen und Rohstofflieferwegen zum herausragenden Auftrag der Bundeswehr erklärt haben. Dazu passt, dass die Bundeswehr zur Zeit eine Art Heimatschutz aufbaut, wie letztlich in der Presse zu lesen war. Dazu passt, dass Innenminister Schäuble sich vehement für eine Auflösung der klaren Grenzen zwischen Polizei, Geheimdiensten und Armee einsetzt. Dazu passt aber auch, dass Polizei und Grenzschutz mittlerweile darin trainiert werden, Arbeitsagenturen vor Arbeitslosen zu schützen. – Diese Entwicklung geht einher mit der Verarmung und Ausgrenzung eines immer größeren Teils der Gesellschaft, der ökonomisch nicht mehr gebraucht wird. Noch immer gilt: Was das Militär an Geld frist, das Geld fehlt in der Sozial- und Bildungspolitik.

Sie mögen sich nun fragen, was diese gegenwärtigen gesellschaftlichen Umbauprozesse mit unserem Predigttext zu tun haben mögen, der dem Buch des Propheten Amos entnommen ist. Dort ist doch von Recht und Gerechtigkeit die Rede, die wie Wasser und wie ein nie versiegender Bach strömen mögen. Genau heißt es dort in Kapitel 5, Vers 24: „Es ströme aber das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach.

Um diesen wohl bekanntesten Satz aus dem Buch des Propheten Amos in seiner politischen – oder präziser gesagt in seiner friedenspolitischen – Bedeutung verstehen zu können, ist nützlich, einen kurzen Blick auf den sozialen Kontext zu werfen, in dem dieser Satz gesagt worden ist. Dann wird auch schnell der Bezug zu dem deutlich, was ich eingangs gesagt habe.

Die alttestamentlichen Propheten haben immer in einem konkreten sozialen und politischen Kontext geredet. Sie haben diesen Kontext theologisch interpretiert und bewertet. So auch Amos. Amos hat um 760 vor Chr. gewirkt. Und zwar in Israel, dem Nordteil des ehemaligen in zwei Teile zerfallen Imperiums von König Salomon. Es war die Zeit Jerobeams II. Die Zeit seiner Herrschaft fiel in die Zeit eines politischen Machtvakuums im vorderen Orient.

Jerobeam II. hat diese politische Situation in zwei Richtungen zu nutzen verstanden. Zum einen hat er, wie Amos beschreibt, eine brutale militärische Expansionspolitik betrieben. Das 1. Kapitel des Prophetenbuches spricht von „eisernen Schlitten“, mit denen die Bevölkerung der eroberten Gebiete „gedroschen“ wurde. Was wohl nichts anderes bedeutet, als das die Zivilbevölkerung durch Jerobeams Armee ziemlich dahingemetzelt wurde.

Zum zweiten hat Jerobeam Zugang zum internationalen Handel gesucht. Das war nötig, um an die für seine Militärpolitik erforderlichen Rüstungsgüter zu kommen. Israel hat allerdings nur landwirtschaftliche Waren erzeugt, die – so wie wir es auch heute noch aus dem internationalen Handel kennen – gegenüber den eingekauften Gütern als geringwertiger galten. Folglich musste die landwirtschaftliche Produktion intensiviert werden und die Abgaben erhöht werden.

Internationalisierung des Handels und militärische Expansion haben den gesellschaftlichen Mechanismus in Gang gesetzt, der zur Zeit des Propheten Amos zu einer brutalen Unterdrückung und zur Verarmung der Landbevölkerung in Israel geführt hat. „Sie treten den Kopf der Armen in den Staub und drängen die Elenden vom Weg.“ So beschreibt es Amos (2, 7).

Der Luxus der kleinen Gruppe der StadtbewohnerInnen, den Amos an anderer Stelle geißelt, ist nur ein „Nebenprodukt“ dieser strukturellen Ungerechtigkeit. Verurteilt wird der Luxus von Amos weniger als moralisches Fehlverhalten der reichen StadtbewohnerInnen, sondern als ein Ausdruck der Unrechtsstrukturen, die hinter dem Luxus liegen.

Auch die Kritik des Propheten an den Tempelgottesdiensten ist nicht moralisch zu verstehen. Vielmehr geht es um die Rolle der Religion in dem politischen System, das Jerobeam II. in seiner recht langen Herrschaftszeit errichtet hat. Die Gesellschaft Israels zur Zeit Jerobeams II. war keine Sklavengesellschaft, sondern eine Gesellschaft freier Bauern. Die Bauern waren dem König gegenüber jedoch Tribut pflichtig. Die Einnahmestelle für die dem König geschuldeten Tribute war der Tempel. Der Tempel war also eine zentrale Schaltstelle des von Amos kritisierten Unrechtssystems. Dass der Tempel und die Priester diese Rolle gespielt haben, dass ist der Kern der Kritik des Amos am Tempel, an der Religion.

In diesem Machtgefüge hat Amos sich bewegt und gewirkt. Er selbst hat sich nicht als Prophet verstanden, sondern er hat sich als das verstanden, was er war: als ein Hirte. Er ist also selbst Teil der unterdrückten und verarmten Landbevölkerung gewesen, in gewisser Weise einer ihrer Sprecher. Er weis sich jenem alttestamentlichem Gott verpflichtet, der das Schreien seines leidenden Volkes hört und erhört. In diesem Sinne – also im Sinne einer Option für die Armen – hat Amos in seiner Kritik die andere Seite der für viele erfolgreichen Politik Jerobeams II. zur Sprache gebracht.

Erkauft waren die militärischen und wirtschaftlichen Erfolge Jerobeams mit der Armut und der Unterdrückung der einfachen Landbevölkerung. Diese unpopuläre Seite hat Amos zur Sprache gebracht – und er hat die Gründe für die herrschende Armut und Unterdrückung offen gelegt und die dahinter liegenden Interessen sichtbar gemacht und einer scharfen theologischen Kritik unterzogen, er hat sie theologisch verurteilt. Amos war kein Moralapostel. Er war Prophet in dem Sinne, dass er unentrinnbar Sprachrohr Gottes und zugleich seines leidenden Volkes war und damit dem Rad des politischen Machtgefüges seiner Zeit in die Speichen gegriffen hat.

„Es ströme aber das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach.“

Dieser Satz ist kein moralischer Appell, kein frommer Wunsch. Er ist auch weniger die Beschreibung eines zukünftigen wünschenswerten Zustandes, der Traum von einem Paradies, sondern vor allem zentrales theologisches Kriterium des Propheten Amos zur Analyse und Beurteilung der ihn umgebenden Wirklichkeit. Einer Wirklichkeit, die alles andere als von Recht und Gerechtigkeit durchströmt ist. Es ist eine Wirklichkeit, in der Amos die Internationalisierung des Handels und die Kriegspolitik Jerobeams II. als zentrale Ursache von Unterdrückung und Verarmung eines großen Teils der israelischen Landbevölkerung ausgemacht hat.

Vom Propheten Amos zu lernen, bedeutet daher für uns:

Wir dürfen nicht den Fehler machen, von Amos Moral predigen lernen zu wollen. Vielmehr müssen wir uns genau anschauen, welche Rolle er in der ihn umgebenden Wirklichkeit, in seiner Gesellschaft eingenommen hat. Um uns dann zu fragen, welches unsere Rolle heute als Christinnen und Christen in der uns umgebenden Wirklichkeit ist. Das kann konkret nur bedeuten, immer und immer wieder die zunehmende Verarmung und die zunehmende Beschneidung von Bürger- und Bürgerinnenrechten als Folgen der eingangs beschriebenen Militarisierung der Politik hier in unserer Gesellschaft deutlich beim Namen zu nennen und ebenso die weltweiten Folgen zunehmender Verarmung, Unterdrückung und Missachtung von Menschenrechten und Völkerrecht durch den so genannten Anti-Terror-Krieg, der vor allem der Durchsetzung von westlichen Wirtschaftsinteressen mit militärischen Mitteln dient.

Vom Propheten Amos zu lernen, bedeutet für uns weiterhin:

Gerechtigkeit ist keine moralische Größe, keine Frage individueller Verhaltensweisen – jedenfalls geht es dem Propheten Amos nicht um diese Dimension, sondern es geht ihm um Gerechtigkeit als politische Dimension.

Gerechtigkeit und Krieg vertragen sich nicht! Das ist die zentrale Aussage unseres Predigttextes. Das heißt: Es gibt keinen gerechten Krieg. Im Krieg und in der Militarisierung der Politik – wie wir sie gegenwärtig erneut erleben – sind, wenn nicht die einzigen, so doch die zentralen Ursachen für soziale Ungerechtigkeit und Unterdrückung zu suchen. Wer Gerechtigkeit will, der muss also der gegenwärtigen Militarisierung der Politik klar, unmissverständlich und unerschrocken entgegentreten – im Zweifelsfall auch mit Mitteln des zivilen Ungehorsams, so wie der Prophet und Ziegenhirte Amos dem Priester Amazja, dem Chef des Tempels in Bethel entgegengetreten ist und der der Meinung war, dass das Land die Worte des Amos nicht ertragen könne und ihn deshalb des Landes verwiesen hat.

Vom Propheten Amos zu lernen, bedeutet für uns zu verstehen:

Die Analyse und die Bekämpfung der Ursachen für Kriege sind die Voraussetzung und der Schlüssel für Gerechtigkeit – innerhalb unserer Gesellschaft wie auch weltweit. Dazu beizutragen ist unsere Aufgabe als Christinnen und Christinnen in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Lage.

In diesem Sinne tun wir gut daran, als Christinnen und Christen uns mit unseren biblischen Friedenstraditionen und mit prophetischer Wachsamkeit und Kritik aktiv in die Ostermarschbewegung einzubringen und mit den Freunden und Freundinnen anderer Konfessionen und Weltanschauungen, aus Friedensinitiativen, aus sozialen Bewegungen, aus Gewerkschaften und aus Parteien gemeinsam dafür zu kämpfen, dass Recht wie Wasser ströme und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach.

Amen