Samstag 03.10.09, 17:00 Uhr
Wenn das Verbrechen zur biologischen Krankheit wird:

Rolf van Raden: „Patient Massenmörder“


Der Unrast Verlag hat eine Studie des Bochumer Literatur- und Sozialwissenschaftlers Rolf van Raden veröffentlicht. Unter dem Titel „Patient Massenmörder“ untersucht der Autor die bis heute spürbaren politisch-diskursiven Folgen eines historischen Mordfalls: Im Jahr 1913 tötete der Lehrer Ernst August Wagner seine Frau und seine vier Kinder. Anschließend erschoss er neun weitere Menschen und verletzte elf schwer. Bis heute beziehen sich WissenschaftlerInnen und JournalistInnen in ganz unterschiedlichen Kontexten auf den Fall: In psychiatrischen Lehrbüchern gilt Ernst Wagner als unheilbarer Paranoiker, der in die Anstalt gesperrt gehört, um die Gesellschaft vor ihm zu schützen. Neurowissenschaftler nutzen den Fall, um zu beweisen, dass die Ursache von Verbrechen in der Gehirnphysiologie des Täters liege. JournalistInnen sehen in Ernst Wagner den Prototyp des modernen Amokläufers und fordern im gleichen Atemzug eine verstärkte Sicherheitspolitik.
In seinem Buch spürt Rolf van Raden, dessen journalistische Erfahrung das Buch auch für Laien verständlich macht, der Frage nach, wie es dazu kommt, dass der fast hundert Jahre alte Mordfall bis heute eine Rolle spielt. Der Autor rekonstruiert, wie im Deutschen Kaiserreich, in der Weimarer Republik, im Nationalsozialismus und in der Bundesrepublik über den Fall gesprochen und geschrieben wurde. Dabei kommt er zu bemerkenswerten Ergebnissen: Zunächst bemächtigten sich die Psychiater des Falls. Mit dem Hinweis auf den gefährlichen Geisteskranken verbreiteten sie Degenerations- und Entartungstheorien. Schritt für Schritt weist der Autor nach, wie die Psychiatrie systematisch die Reichweite ihrer Diskurse ausdehnte, bis im Nationalsozialismus schließlich die ärztliche Tötung von mehr als 100.000 Anstaltsinsassen möglich wurde. Der Täter Ernst Wagner und seine Psychiater erscheinen in diesem Zusammenhang als Referenzfiguren eines Jahrhunderts der Biopolitik, das keineswegs 1945 endete: Bis heute werde die Politik maßgeblich durch die Frage geprägt, wie das Gesellschaftskollektiv vor seinen inneren und äußeren Gefahren geschützt werden könne. Indem der Autor die Diskurse über Krankheit, Verbrechen, Schuld und Geisteskrankheit bis in die Gegenwart nachverfolgt, zeigt er: Noch immer wird die vor den Gefahren zu schützende Gesellschaft als quasi-biologischer Organismus gedacht. Das Buch ist ab dem 8. Oktober im Handel erhältlich. Zur Verlagsseite.