Rede von Ralf Feldmann zum Volkstrauertag 2006 auf der Gedenkveranstaltung der VVN - BdA
Sonntag 19.11.06, 22:00 Uhr

Die Geschichte ist noch nicht zu Ende


Liebe Bochumer Mitbürgerinnen und Mitbürger!

Volkstrauertag ist ein heilloser Gedenktag. Unfassbar das apokalyptische Gemetzel der beiden Weltkriege, so niederträchtig, roh und grausam die millionenfache Erniedrigung, Verfolgung und Vernichtung der Opfer der nationalsozialistischen Gewalt: da erstarrt Erinnerung in Entsetzen – und Unfähigkeit zur Trauer ist nicht immer die Folge davon, vergessen und verdrängen zu wollen.

10 Millionen Tote forderte der 1. Weltkrieg in Europa. Kamen im 1. Weltkrieg täglich 1.000 Soldaten um, so waren es im 2. Weltkrieg allein im Osten während der ersten 3 Jahre täglich 2.000, danach täglich 5.000. 55 Millionen Menschen starben in Europa, mehr als 20 Millionen Opfer hatte die Sowjetunion zu beklagen. Mehr als 6 Millionen deutsche Soldaten kamen um, 1,5 Millionen blieben vermisst. 600.000 Zivilisten starben in den Bombennächten, 1,7 von 15 Millionen Vertriebenen auf der Flucht. Nach dem Vernichtungskrieg deutscher Männer im Osten mussten Hunderttausende vergewaltigte Frauen, Mädchen, Kinder und Greisinnen dafür zutiefst gedemütigt einen oft tödlichen Preis entrichten.

Wir kennen nicht nur die schrecklichen Zahlen, auch die Bilder sind uns überliefert: die Menschenreste auf den zerwühlten Schlachtfeldern, in den Beinhäusern, in den Trümmern der ausgeglühten Städte, die Überlebenden mit abgetrennten Gliedmaßen, erblindet mit weggeschossenen Gesichtsteilen. Wer könnte die Bilder des Grauens lange ertragen und wer könnte es ohne Mitleid tun? – Aber da gibt es auch die anderen Bilder: kriegsbereit drohende Formationen in grandiosen Lichtdomen, hysterische Massen in glückstrahlender Unterwerfung unter den erlösergleichen Führer: bejubelt kündigt er Verbrechen an und setzt sie mit ihrer willigen und stolzen Hilfe ins Werk. Ein Wehrmachtsgefreiter schrieb im August 1940 aus Ostpolen an seine Familie:“ Hier diese Stadt hat 40.000 Einwohner, davon sind 30.000 Juden….Die Juden liegen wie Schweine auf der Straße herum, gerade eines “ auserwählten Volkes“ würdig….Überall, wo wir für unser Großdeutsches Vaterland stehen, sind wir stolz, dem Führer helfen zu können. Die Größe der Zeit werden erst Generationen nach uns begreifen können. Aber wir alle wollen vor der Geschichte bestehen, voll Stolz, auch unsere Pflicht getan zu haben.“ Es gibt Tausende solcher Briefe. Ein guter Kamerad? – Unsere Erinnerung am Volkstrauertag sieht überall Menschen, die Opfer wurden, weil sie Mittäter waren oder die Mörder gewähren ließen. Volkstrauertag ist ein heilloser Gedenktag.

Für uns vor allem der Tag der Erinnerung an die Erniedrigten, Gehetzten und Vernichteten: 6 Millionen Juden, Hunderttausende Sinti und Roma, Zwangsarbeiter, Behinderte, Homosexuelle, die dem Rassenwahn ihrer Mörder zum Opfer fielen. Hier an ihren Ehrengräbern gedenken wir der Menschen des Widerstandes und der politisch Verfolgten, die uns in heilloser Erinnerung Hoffnung hinterlassen: Die besonders Mutigen, Tapferen und Weitsichtigen kämpften weiter, als der Terror begann. Andere brauchten einen langen Weg in die Ausweglosigkeit, manche bis nach Stalingrad, um nach Anpassung und Mitmachen ihr Leben im Widerstand zu opfern. Zu den besonders Mutigen und Entschlossenen des Bochumer Widerstands gehörten Friedrich Hömberg, Josef Langner, Bernhard Nast, Moritz Pöppe, Johann Schmittfranz, Wilhelm Schpenk, Wilhelm Thiesbürger und Erich Schröder. Ein Gedenkstein wird hier künftig an die hingerichteten und in Konzentrationslagern und Kerkern ermordeten Widerstandskämpfer erinnern: gegen das Vergessen, vor allem aber als Zeichen unauslöschlicher Hochachtung und Dankbarkeit. Mit besonderer Zuneigung denken wir in diesem Jahr an den kommunistischen Widerstandskämpfer Karl Springer. Vor 60 Jahren wurde er im Polizeipräsidium an der Uhlandstraße umgebracht. Karl Springer war Redakteur des kommunistischen „Ruhr-Echo“, Mitglied des Stadtrats und engagierter Gewerkschafter im Alten Verband unter Fritz Husemann. Dort wurde er nach einem Einsatz für oppositionelle Kandidaten ausgeschlossen. Während der Überfälle von SA-Trupps auf aktive KPD- und SPD-Mitglieder im März 1933 ließen ihn die Schläger in aller Öffentlichkeit blutüberströmt liegen. Nach einem halben Jahr im Konzentrationslager Esterwegen setzte er seine Untergrundarbeit fort. Bei seiner erneuten Verhaftung wurde er so misshandelt, dass er am 18. Oktober 1936 im Polizeigefängnis starb. – Fritz Husemann, der Sozialdemokrat, war bereits 1935 in Esterwegen ermordet worden. Beider Schicksal bezeugt die Tragödie der entzweiten Linken.

Die Menschen des Arbeiterwiderstandes, der den größten Blutzoll zahlte, erinnern uns daran: Terror, Vernichtungskrieg und Judenmord sind nicht wie ein unaufhaltsames Unwetter über unser Land gekommen, sondern weil vor allen anderen die Eliten versagten. Vielfach knüpften Nationalsozialisten an das an, was lange vor 1933 gedacht und in Ansätzen praktiziert worden war. Auch die Vernichtung der Juden ist nicht das einzigartige Verbrechen einer kleinen Clique um Hitler und Himmler, sondern ein Verbrechen, an dem Hunderttausende Deutsche, darunter viele aus den bürgerlich-akademischen Eliten aktiv mitgewirkt haben, die das humanistische Erbe der Aufklärung verschmähten. Wäre ich 40 Jahre früher geboren, hätte ich nicht auch als junger ehrgeiziger Jurist im Referendarlager mit besoffenem Grinsen das Recht symbolisch an den Galgen gehängt? Hätte ich nicht auch bei der Beseitigung jüdischer Konkurrenten ein fröhlich Liedchen pfeifend weggeschaut? Welche religiöse Überzeugung hätte mich vor Furchtbarerem bewahrt, wenn Bischöfe die 10 Gebote vergaßen, die Verbrechen nahezu gänzlich beschwiegen, zum Gebet riefen für den größten Feldherrn und das Gelingen des Vernichtungs- und Raubkrieges, die katholischen treu ergeben dem jämmerlichen, ewig unseligen Stellvertreter in Rom?

Die Eliten der kapitalistischen Wirtschaft werden mit Blick auf Gewinn- und Verlustrechnungen nicht von Versagen reden wollen. Anschubfinanzierung des Terrors und laufendes Sponsoring erwiesen sich als renditestarkes Investment, sterbende Zwangsarbeiter als kriegsbedingte Durchlaufposten; die überlebten glaubte man Jahrzehnte später mit ein paar widerstrebend abgetrotzten Entschädigungsgroschen abfinden zu können. Wie großzügig dagegen war der in diesem Jahr aus steuerlichen Gründen in Österreich verblichene Erbe, als er ein paar Jahrzehnte später erneut mit Millionen Politiker und ihre Parteien ausstattete, die als Herren zu bezeichnen sein Hausmeier die Güte hatte, – mit Geld, an dem noch das Blut und die Asche von Auschwitz klebten.

Heutige konservative Denker reden das Versagen klein. Der Zeithistoriker Arnulf Baring nannte unlängst zum Auftakt einer Vortragsreihe der hessischen CDU Was uns leitet – Eckpfeiler einer bürgerlichen Kultur den Nationalsozialismus eine „beklagenswerte Entgleisung“. Immerhin habe Hitler bis 1938 die Gesellschaft wieder konsolidiert. – Karl Springer und Fritz Husemann: Konsolidierungsopfer! – Die Auffassung, das Verbrechen der Judenvernichtung sei „einzigartig und unvergleichbar“ sei aber „Übertreibung“ – Ausdruck eines „Sünderstolzes“, „eine merkwürdige Art von Überheblichkeit“. Auch der Richter am Bundesverfassungsgericht Udo di Fabio redet in seinem Buch Die Kultur der Freiheit die größte existenzielle und moralische Katastrophe unserer Geschichte als „Entgleisung“ und „Verirrung“ herunter. Der Nationalsozialismus sei – gleichsam von außen angeflogen – eine „heimtückische Krankheit“ gewesen, die „wie ein wucherndes Krebsgeschwür“ die Nation befallen habe. Hitler sei gar „kein Deutscher“ gewesen, sondern „nur ein verkleideter Deutscher, ein entwurzelter Gaukler aus der Gosse“, der das Volk „verführt und belogen“ habe. Die wissenschaftlichen Vorfahren des Verfassungsrichters, all die eingeknickten Großfürsten des Geistes im Land der Dichter und Denker, wir wissen es nun, ergaben sich den Faxen eines undeutschen Gossengauklers.

Nein, nicht bei diesen Wegbereitern eines wieder ins Gleis gebrachten unbeschwerten Nationalismus – wenn wir uns irgendwo festhalten wollen: wir haben das Vermächtnis des Widerstandes: Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg! – Und: Die Würde des Menschen ist unantastbar!

Doch diese Flamme der Hoffnung gerät sogleich wieder heillos ins Flackern. Denn es ist wahr: beim Aufbau ihrer ersehnten besseren Gesellschaft fielen manche Gequälten und Gebrannten selbst auf Kerker, Folter, ja Totschlag zurück – und scheiterten daran. Und bei uns hier im „bürgerlich-sozialen Rechtsstaat“ fand sich bald manch einer, dem braunen Terror knapp entronnen, erneut im Zuchthaus, weil er kapitalistische Ausbeutung nicht als das Ende der Geschichte akzeptieren mochte oder sich auch „nur“ dem Kampf gegen den Atomtod anschloss; im schlimmsten Fall von einem reaktivierten furchtbaren Richter straferschwerend verhöhnt, er habe sich die Qualen des Nazikerkers nicht zur Warnung dienen lassen.

Nie wieder Krieg: dieses Gelübde hielt nicht einmal 10 Jahre. Es folgte in beiden deutschen Staaten eine wahrhaft endzeitliche Hochrüstung bis zum Szenario einer Verteidigung durch atomares Inferno auf beiden Seiten. Viele von uns waren vor 25 Jahren im Bonner Hofgarten: Unser Überlebenswille gegen die Mittelstreckenraketen wurde als naive Gesinnungsethik verspottet, die infernale „Verantwortungsethik“ des opferbereiten Weltkrieg 2-Leutnants setzte sich vorerst durch. Immer noch halten die Strategen des jüngsten Verteidigungsweißbuchs deutsche nukleare Teilhabe für unerlässlich. Unter der Hand wurde die Bundeswehr auf weltweite Intervention umgerichtet und selbst das Friedensvölkerrecht der UN-Charta wird seit dem Jugoslawienkrieg nicht mehr als grundgesetzlich bindend geachtet, sondern gilt eher als überwindbares Einsatzhindernis. Krieg zur Sicherung unserer Interessen und des Wohlstandes etwa bei Störung der Ölversorgung wird zum Einsatzziel, Aufrüstung gar zur Verfassungspflicht der bisher noch gescheiterten EU-Verfassung .

Nie wieder Faschismus? Eine Blutspur zieht sich durch unser Land. 133 Menschen fielen seit 1990 in Deutschland rechtsextremistischer Gewalt zum Opfer, vor allem Migranten, aber auch Obdachlose und Behinderte. Wir werden im Frühjahr nächsten Jahres in Bochum diese Opfer eines neuen Herrenmenschenwahns in einer Ausstellung der Verdrängung entreißen und sichtbar machen. Rechtsextremistische Gewaltkriminalität ist im letzten Jahr erneut gestiegen. Die braunen Knallchargen und Biedermänner in unseren Parlamenten können ihre Hände nicht in Unschuld waschen. Sie sind die geistigen Brandstifter, die Paten für Mord und Totschlag. Immer enger wird die Vernetzung der Schlipsfaschisten mit den militanten rechten Kameradschaften. Sie rühmen sich national befreiter Zonen. In Wahlkämpfen der NPD gibt es wieder rechte Prügeltruppen. Ihre Wahlplakate zeigen tausendfach die Vertreibung muslimischer Frauen mit der zynischen Parole „Gute Heimreise“, abgekupfert von Vertreibungsbildern jüdischer Opfer in Polen auf dem Weg in ihre Vernichtung und versehen mit Unbedenklichkeitsbescheinigungen der Staatsanwaltschaften Berlin und Bochum. Für das Bundesverfassungsgericht stand der vorhersehbare Hetzzug gegen die Errichtung der Bochumer Synagoge im Einklang mit der öffentlichen Ordnung. Ob braune Horden aus ganz Europa demnächst vielleicht doch wieder in Wunsiedel zur stellvertretenden Ehre des Führerstellvertreters Rudolf Heß aufmarschieren dürfen, darüber muss unser höchstes Gericht noch gründlich nachdenken, weil die Frage so schwierig ist.

Und die Menschenwürde – sie ist antastbar. Folter zum Beispiel ist im führenden konservativen Grundrechtskommentar kein Tabu mehr. Jahrelang war es der Bundesregierung keiner Mühe wert, einen unschuldigen Menschen aus seiner rechtlosen Erniedrigung im Foltergefängnis Guantanamo zu erlösen. Weil sie die Foltervormacht nicht irritieren wollte? Oder weil der Mensch nur ein Deutschtürke ist? – Wenn ein ebenfalls unschuldiger Deutscher von der Foltervormacht in das Gefängnis eines Folterstaates verschleppt wird, schicken sie zum Verhör auch eigenes Personal, das beteuert, selbst nicht zu foltern. Die mutige Kanzlerin hofft gar öffentlich, dass Guantanamo „längerfristig“ geschlossen wird. Aber im Grundgesetz ist Menschenwürde keine nur zukünftige Glücksverheißung. Wer also stellt die Bündnisfrage?

Menschenwürde im Alltag? – Die Gewaltbereitschaft junger Menschen wächst: der Hoffnungslosen – keineswegs nur Rechtsextreme. Der Niedergeschlagene wird – beinahe typisch schon – zusammengetreten, sein Gesicht durch Fußtritte entstellt. Wer in der Schule trotz aller Förderrhetorik sortiert und aussortiert wird, dann ohne Berufsausbildung, Arbeit und Zukunftshoffnung bleibt, wie schwer fällt es ihm, Selbstwertgefühl und persönliche Würde zu entwickeln und damit auch die Fähigkeit, die gleiche Würde der anderen zu achten. Illusionäre Selbstüberhebung und Erniedrigung anderer ist das Ventil der Enttäuschung. Die Jungen wachsen in eine Welt des neoliberalen Zynismus, in der „jeder an sich denkt, dann ist an alle gedacht“, in der folglich Reiche reicher, Arme aber immer ärmer werden, in der Solidarität und die Bereitschaft zum Teilen als Renditehindernisse geschmäht werden. Immer mehr Menschen erleben sich als bloße Verrechnungsposten in den Renditekalkulationen der wirtschaftlich Mächtigen, ausgesondert, wenn sie keine Rendite bieten. Wer volle Schichten arbeitet, ist nicht mehr sicher, sein Existenzminimum zu verdienen geschweige denn den Unterhalt auch nur für ein einziges Kind: Markt erledigt Menschenwürde. Und der Sozialstaat darf nicht mehr korrigieren und kompensieren, Förderung durch Bildung bleibt eine hohle Parole des Kulturstaates: denn arm muss der Staat sein, damit die Renditen der Wirtschaftsmächtigen und Reichen nicht enttäuscht werden. Barmherzige Samariter lindern in Suppenküchen, Lebensmittel-, Kleider- und Gebrauchtmöbeldepots die drängendste Not.

Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg, unantastbare Menschenwürde:
Dieses Fundament unserer Gesellschaft bei ihrer Rückkehr in die zivilisierte Welt ist rissig, ja brüchig geworden. Das gehört zur Trauer am heutigen Tag. Das Vermächtnis der Menschenwürde – Fundamentalrecht des Grundgesetzes, dass niemand das Objekt fremder Zwecke werden darf, die Verheißung der Demokratie, die eigenen Lebensbedingungen in Staat und Gesellschaft mitbestimmen zu können, werden täglich dementiert.

Zum offiziellen Ritual dieses Tages gehören Hymne und Lied. Mir geht ein gut 120 Jahre altes Lied nicht aus dem Kopf: die damals schon globale, leidenschaftliche Antwort auf Erniedrigung, Entrechtung, Not und Ausbeutung. Wie heißt es dort in der 2. Strophe? Uns aus dem Elend zu erlösen, können wir nur selber – tun! – „Das gilt immer noch!“ würden uns Karl Springer, Moritz Pöppe und alle ihre mutigen Kampfgenossen zurufen. „Lasst euch nicht einreden, dass eure Gesellschaft alternativlos ist. Die Geschichte ist noch nicht zu Ende.“