Donnerstag 26.05.22, 18:31 Uhr

Ruhr International


Am kommenden Wochenende findet in und um die Jahrhunderthalle das Festival Ruhr International statt. Die vom Bahnhof Langendreer organisierte Veranstaltung bietet ein umfangreiches Programm an. Der Eintritt ist frei. Auf der Webseite des Festivals gibt es einen Spielplan, der die fast 40 Programmpunkte auflistet. Unter dem Stichpunkt Marktplatz ist eine Aufzählung von Initiativen und Anbieter:innen von Leckereien zu finden, die rund um die Jahrhunderthalle mit Informations- und Verkaufsständen zu finden sind. Das Festival hat eine lange Tradition. Es fand 1974 als Kemnade international erstmals auf der Wasserburg im Bochumer Süden statt. Veranstalter war das Bochumer Kunstmuseum. Getragen wurde es weitgehend von den unterschiedlichsten Migrant:innen-Organisationen des Ruhrgebietes. Das waren in erster Linie Vereinigungen von „Gastarbeiter:innen“, die damals als Arbeitskräfte nach Deutschland gelockt wurden. Prägend für das Programm waren auch Exilant:innen, die aus den Diktaturen ihrer Heimatländer – wie z. B. Chile – geflohen waren.

Nach der Katastrophe bei der Love-Parade 2010 in Duisburg wurden alle Massenveranstaltungsorte daraufhin überprüft, in wie weit sie bei Panikreaktionen ein Risiko darstellen können. Die Fluchtwege von der Wasserburg wurden als unzureichend eingestuft. Kemnade International war Geschichte. Der Bahnhof Langendreer ergriff 2012 die Initiative und entwickelte das neue Konzept „Ruhr International“, das die Tradition des bunten Multikulti-Festival fortsetzte.

Die schönste Geschichte über das im Text nicht benannte Festival wurde Mitte der 1980-er Jahre von Pedro Holz verfasst:

DIE LETZTE EMPANADA

“Was ist das?”
“Eine chilenische Spezialität mit Käse.”
“Und wie nennt sich das?“
“Em-pa-na-da, empanada.“
“Na, dann geben Sie mir mal eine. Wieviel?”
“ Zwei Mark.”

“Was ist das?”
“Empanadas, chilenische Käsepasteten.”
“Wie teuer?“
“Zwei Mark.”
“Zwei mal, bitte !”
“Vier Mark.”
“ Danke.”
“Wie nennt sich das? “
“Em-pa-na-da, eine chilenische Kessetasche.”
“Wie bitte?”
“Eine Kessetasche.“
“Ach so, Kä-se-ta-sche. Ich mag keinen Käse.”

Mario hatte ein Schild gemalt. Einfach mit dem schwarzen Filzstift. Einen grossen Baum mit Knospen und kleinen Früchten. Der Empanadabaum aus der Wüste Atacama im Norden Chiles, Empanadaknospe, reife Empanada – lauteten die Beschriftungen. “Das ist doch gar nicht möglich”, meinte ein junger Mann in schwarzer Lederjacke, “ihr wollt uns verarschen”. “Nein, wirklich, es stimmt”, beteuerte Juan, ohne mit der Wimper zu zucken, “sie werden mit dem Flugzeug eingeflogen, nicht reif natürlich, so ungefähr wie Bananen.”
“Na, gib mir mal eine!”
“ Empanadas aus Chile, Empanadas !!! ”
“Warum macht ihr nicht ein bisschen Musik? In Lateinamerika singen doch alle so schön. Guantanamera, Cha-Cha-Cha…”
“Juan, hol’ die Gitarre, wir werden Guatanamera singen, hier für die Genossen.”
Juan versuchte, seine Gitarre zu stimmen. “Also dann, Guantanamera, ein Lied aus Kuba, aber vergesst nicht unsere Empanadas aus Chile.”
“Alle zusammen: Guantanamera, guajira Guantanamera.”
“Yanquis afuera, malditos yanquis afuera”, sang Mario viel lauter als alle anderen.
“ Was bedeutet das?“
“Yankees raus, verdammte Yankees raus.“
“Jetzt nochmal, alle zusammen. Todos juntos!”
“Yanquis afuera, malditos yanquis afuera!”
Eine junge Frau mit Brille, die nicht mitgesungen hatte, rollte einen Zehnmarkschein zusammen und steckte ihn in die Sammelbüchse.
“Vielen Dank.”
Es wurde dunkel. An den Nachbarständen packte man schon die Sachen zusammen.
“Wieviele Empanadas haben wir noch?”
“Weiss nicht, so ungefähr fünfzig. Wir können sie ja einfrieren.“
“Nein, machen wir weiter… Jetzt Empanadas zu nur eine Mark fünfzig.“
“Schenkst du mir eine ? Ich hab´ zu viel getrunken.“
“Das geht nicht, das Geld ist für Chile.”
“Was ist denn da in Chile?”
“In Chile gab es 1973 einen Putsch, das Geld ist für die Leute, die gegen die Diktatur kämpfen.”
“Was ist denn das für eine Diktatur, Kommunisten?”
“Nein, so ähnlich wie damals in Deutschland unter Hitler.”
“Verstehe ich nicht, aber gib mir mal so ein Ding. Wie heißt das?”
“Empanada, eine Mark fünfzig.”
Immer weniger Menschen kamen zu den wenigen Ständen, die noch offen hatten.
“So, jetzt musst du mir wirklich so ‘ne Pastete schenken, ich habe keine Knete mehr.”
“Na gut.”
“Vielen Dank, du. Ich wünsche euch, dass ihr bald die Kommunisten aus euerm Land rausschmeisst und so ‘ne Demokratie bekommt wie wir hier.”

Erstveröffentlichung in: “Die Brücke” Nº 44, August/September 1988.