Sehr geehrter Herr Ministerpräsident,
sehr geehrter Herr Justizminister,
sehr geehrte Damen und Herren,
Neutralität des Staates gegenüber den unterschiedlichen Weltanschauungen und Religionen ist ein fundamentales Prinzip des Grundgesetzes. Das Grundgesetz, so sagt das Bundesverfassungsgericht, gibt durch Art. 4, den Gleichheitssatz und die aus der Weimarer Reichsverfassung übernommenen Artikel des Staatskirchenrechts „dem Staat als Heimstatt aller Staatsbürger ohne Ansehen der Person weltanschaulich-religiöse Neutralität auf“ und untersagt die Privilegierung bestimmter Bekenntnisse. Glaubensfreiheit gibt keinen Anspruch auf Glaubensunterstützung durch den Staat, sondern zwingt ihn zur weltanschaulichen Neutralität. Das Bundesverfassungsgericht betont den gesellschaftlichen Sinn dieser Neutralität: Der Staat, in dem Anhänger unterschiedlicher oder gar gegensätzlicher religiöser und weltanschaulicher Überzeugungen zusammenleben, könne die friedliche Koexistenz nur gewährleisten, wenn er selbst in Glaubensfragen Neutralität bewahre, sich am Gleichheitssatz orientiere und jede Identifikation mit Religionen und Weltanschauungen vermeide. Kreuze in öffentlichen Räumen des Staates, so urteilte 1995 das Bundesverfassungsgericht im „Kruzifixbeschluss“ am Beispiel einer staatlichen Pflichtschule, sind deshalb verfassungswidrig.
Danach dürfen staatliche Akteure – Regierungen oder einzelne Amtsträger – in öffentlichen staatlichen Räumen keine Kreuze anbringen oder dies allgemein anordnen. Das führte in Nordrhein-Westfalen nicht dazu, Kreuze, wo es sie in Gerichten noch gab, verfassungstreu zu entfernen. Der Widerstand dagegen in Justiz und Gesellschaft, nicht nur von Katholiken, blieb erheblich. Neubauten und Renovierungen erleichterten es manchmal, sich von Kreuzen unspektakulär zu verabschieden. Aber besonders in Gebieten mit katholischer Bevölkerungsmehrheit, etwa im Sauerland und Münsterland und am Niederrhein, sind Gerichtssäle in Amts- und Landgerichten auch 25 Jahre nach dem Kruzifixbeschluss immer noch mit Kreuzen ausgestattet.
Im Widerstand gegen das Bundesverfassungsgericht sticht der Affront des Präsidenten des Verwaltungsgerichts Düsseldorf besonders hervor, der inzwischen auch zum Vizepräsidenten des Landesverfassungsgerichts aufgestiegen ist. 2010 zu Beginn seiner Amtszeit ließ er aus eigener Machtvollkommenheit am Tag der deutschen Einheit im Haupttreppenhaus des Verwaltungsgerichts ein Kreuz anbringen. Im Verfassungsstaat des Grundgesetzes hat aber das Bundesverfassungsgericht in Verfassungsfragen das letzte Wort. Seine Entscheidungen begrenzen den Entscheidungsspielraum der Gesetzgeber, Exekutive und Justiz müssen ihnen folgen. Diese Kompetenzordnung rechtsstaatlicher Konfliktlösung ist für die freiheitliche Grundordnung des Grundgesetzes grundlegend.
Nicht so für den Präsidenten des Verwaltungsgerichts und Vizepräsidenten des Landesverfassungsgerichts, der sein Glaubensbekenntnis über die Verfassung stellt. Er stellt sich auch gegen die verfassungstreue Tradition der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Nordrhein-Westfalen. Schon Jahrzehnte vorher, lange vor dem Kruzifixbeschluss von 1995, ordnete der damalige Präsident des Oberverwaltungsgerichts an, alle in Verwaltungsgerichten noch vorhandenen Kreuze zu entfernen. Denn das Bundesverfassungsgericht hatte bereits 1973 in einem Einzelfall entschieden, dass die durch Art.4 GG geschützte negative Bekenntnisfreiheit eines nichtchristlichen Prozessbeteiligten verletzt sei, wenn er gezwungen werde, in einem Gerichtssaal mit Kreuz zu verhandeln.
Landesregierungen gleich welcher Couleur ließen in Gerichten des Landes die Missachtung des Grundgesetzes und des Verfassungsgerichts zu. Das in wechselnden Konstellationen dominierende politische Spektrum aus Christdemokraten, Sozialdemokraten, Liberalen und Grünen nahm das – mit ängstlichem Blick auf christliche Wählerinnen und Wähler – nicht nur hin, sondern belohnte Untreue gegen die Verfassung sogar mit Beförderung zum Landesverfassungsgericht. Das geschah zwar ohne die auftrumpfende identitäre Vehemenz, die den bayerischen Ministerpräsidenten zu der Anordnung verleitete, im Eingangsbereich aller Landesbehörden gut sichtbar ein Kreuz aufzuhängen, atmet aber denselben Geist leitkultureller Anmaßung.
Kreuze in öffentlichen Räumen des Staates verstoßen nicht nur gegen die Pflicht zur weltanschaulichen Neutralität. Denn sie sind nicht allein Glaubensbekenntnis mit Hilfe staatlicher Ressourcen, sondern auch politische Meinungsäußerung. Als religiöses, auch kleingeredet als nur „kulturelles“ Symbol, wirbt das Kreuz allgemeinpolitisch für die mit ihm verbundenen christlichen Ideologien und Richtigkeitsvorstellungen zur Gestaltung von Staat und Gesellschaft. Deshalb versammeln sich christliche Parteien ja in ihren eigenen Räumen unter dem Kreuz. Wenn ihre Anhänger aber in öffentlichen Räumen des Staates Kreuze anbringen, verletzen sie auch das Gebot der politischen Neutralität im Amt. Niemand käme ernsthaft auf die Idee, das Logo oder Symbol einer politischen Partei als Sinnstifter in Räumen des Staates präsentieren zu dürfen. Das Kreuz ist demgegenüber verfassungsrechtlich kein privilegiertes Symbol. Regierungen und öffentliche Amtsträger dürfen im politischen Meinungskampf nicht auf Mittel zugreifen, die ihnen von Amts wegen zur Verfügung stehen. Auch das ist Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.
Was, sehr geehrter Herr Ministerpräsident Laschet, lässt hoffen, Sie als öffentlich bekennenden Katholiken dafür zu gewinnen, verfassungsgehorsam für weltanschauliche Neutralität im Erscheinungsbild aller Gerichte des Landes einzutreten und das höchste Symbol Ihres Glaubens dort nicht mehr zur Schau zu stellen? Zum einen die Erkenntnis, dass es im Meinungsspektrum des Katholizismus immer auch Befürworter einer klaren weltanschaulichen Neutralität des Staates gegeben hat. Ernst Wolfgang Böckenförde ist gerade zum Thema „Kreuze in Gerichtssälen“ ein leuchtendes Beispiel, das Ihnen sicher bekannt ist. Kardinal Marx wandte sich im Streit um den bayerischen Kreuzerlass theologisch gegen eine Herabwürdigung des Kreuzes zu einem kulturellen Symbol der Ausgrenzung in einer multikulturellen Gesellschaft. Der bayerische Kreuzerlass schaffe “Spaltung, Unruhe, Gegeneinander“. Das Kreuz sei aber „kein Zeichen gegen andere Menschen.“ Der Staat gefährdet das friedliche Zusammenleben, wenn er weltanschaulich nicht neutral ist: ein Argument des Bundesverfassungsgerichts aus dem Mund des katholischen Kirchenführers.
Ich selbst kann auf nahezu vier Jahrzehnte in der ordentlichen Gerichtsbarkeit zurückschauen. Während meines studentischen Praktikums 1972 gab es in den Sälen des Amts- und Landgerichts Bochum noch Kreuze, 1974 zu Beginn meiner Referendarzeit – nach der einschlägigen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1973 – schon nicht mehr. Am Landgericht als Präsidialrichter und später lange Jahre als aufsichtführender Richter und Mitglied des Präsidiums des Amtsgerichts Bochum habe ich mit Kollegen an der Spitze der Gerichte vertrauensvoll zusammen gearbeitet, denen ihr katholisches Bekenntnis wichtig war. Aber ebenso der Respekt vor der weltanschaulichen Vielfalt unter den anderen Menschen im Gericht und bei den Rechtsuchenden: eine Rückkehr von Kreuzen war für sie nie ein Thema. Ich bin froh, dass sie mir den Konflikt ersparten, mit allem Nachdruck für eine verfassungstreue Ausstattung meines Gerichts eintreten zu müssen: ein Gericht mit Kreuzen hätte ich nicht betreten.
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, Sie sind ein führender Politiker ihrer christlichen Partei. Umso wichtiger ist es zu wissen, ob Sie weltanschauliche Neutralität des Staates – getreu Ihrem Amtseid, Verfassung und Recht zu wahren und zu verteidigen – in allen Gerichten des Landes durchsetzen wollen oder ob für Sie, wie für Ihren bayerischen Amtskollegen, Religion über dem Grundgesetz steht. Wird der künftige Kanzlerkandidat Ihrer Partei Gewähr dafür bieten, jederzeit für die freiheitlich demokratische Grundordnung einzutreten?
Sehr geehrter Herr Justizminister Biesenbach, mit einem Gesetz zur Förderung religiöser und weltanschaulicher Neutralität wollen Sie jeden Anschein religiöser und weltanschaulicher Voreingenommenheit der Justiz durch ihr äußeres Erscheinungsbild ausschließen. „Religion gehört nicht in den Gerichtssaal. Neutralität ist gerade vor Gericht nicht nur eine Wertentscheidung des Grundgesetzes, sie ist Grundvoraussetzung für einen funktionierenden Rechtsstaat.“ Mit diesen Worten beschrieben Sie das Ziel des Gesetzes. Leider nehmen Sie das Ziel nicht ernst, wenn das Gesetz lediglich Justizangehörigen „Symbole oder Kleidungsstücke, die die eine bestimmte religiöse oder weltanschauliche Anschauung zum Ausdruck bringen“ im Amt untersagen will, zu Kreuzen in Gerichten aber schweigt. Wer sich am Grundgesetz orientiert, darf vom Kreuz nicht schweigen, wenn er das Kopftuch verbieten will. Neutralität im Erscheinungsbild der Justiz ist nicht nur eine Frage der Kleiderordnung. Es irritiert sehr, wenn Sie zeitgleich mit Ihrem Gesetzesvorschlag, einem Richter den Weg zum Vizepräsidenten des Landesverfassungsgerichtshofs öffnen, der die weltanschauliche Neutralität der Justiz fortgesetzt verletzt.
Wenn Ihnen die weltanschauliche Neutralität der Justiz in ihrem Erscheinungsbild wirklich ein Anliegen ist, müssen Sie das Gesetz vor allem auch auf die Symbole – also Kreuze – ausweiten, die staatlicherseits in Gerichten angebracht worden sind. Kraft Ihrer Organisationsgewalt innerhalb der Justiz könnten Sie auch ohne eine Erweiterung Ihrer Gesetzesvorlage die Entfernung von Kreuzen aus den Gerichten anordnen, die – ohne jede gesetzliche Grundlage – von Gerichtsverwaltungen in die Gerichte eingebracht worden sind. Diese haben dazu kein „Hausrecht“, schon gar keines, das über der Verfassung stünde. Welchen Weg zum Ziel Sie auch immer für richtig halten: Beginnen Sie in der nordrhein-westfälischen Justiz endlich den überfälligen Kommunikationsprozess zur vollständigen Beendigung der – unter dem Grundgesetz verfassungswidrigen – Tradition von Kreuzen in Gerichten, besonders mit den betroffenen Gerichten und den Justizangehörigen dort!
Verfassungs- und Gesetzesbindung ist die Grundverpflichtung der Justiz. Dafür hat jede Richterin und jeder Richter eine individuelle, dem Amt geschuldete Grundverantwortung: in der konkreten täglichen Arbeit und für die Justiz insgesamt. Deshalb sollten Richterinnen und Richter zusammen mit allen Justizangehörigen diesen notwendigen Kommunikationsprozess jetzt auch von unten anstoßen und nicht auf den Minister oder Gesetzgeber warten. Die Richter- und Personalräte können das Thema auf die Tagesordnung ihrer regelmäßigen Gespräche mit den Gerichtsvorständen und dem Minister setzen und auf Personalversammlungen diskutieren. Die verfassungskonforme Gestaltung des Arbeitsplatzes Gericht ist ein Mitbestimmungstatbestand. Die Präsident*innen und Direktor*innen der Gerichte haben in ihren regelmäßigen Dienstbesprechungen in der Gerichtshierarchie Gelegenheit, Neutralität im Erscheinungsbild der Justiz zu erörtern, einzufordern und zu verwirklichen. Alle Verbände und Gewerkschaften der Richterinnen und Richter und aller Justizangehörigen haben sich mittlerweile für strikte Neutralität der Justiz in ihrem Erscheinungsbild ausgesprochen. Das werden sie in der öffentlichen Diskussion und in der Kommunikation mit der Landesregierung sicher bekräftigen.
Eine besondere Verantwortung für unsere Verfassung haben die Mitglieder des Landesverfassungsgerichtshofs. Sie haben mindestens informell die Gelegenheit, ihren Vizepräsidenten zur Verfassungstreue zu ermahnen.
Bochum, den 6. Dezember 2020
Ralf Feldmann
Der Appell war adressiert an:
- den Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen Armin Laschet
- den Justizminister des Landes Nordrhein-Westfalen Peter Biesenbach
- die Mitglieder des Rechtsausschusses das Landtags
- die Mitglieder des Landesverfassungsgerichtshofs NRW
- die Präsidentinnen und Präsidenten der Verwaltungsgerichtsbarkeit in NRW
- die Präsidenten der Oberlandesgerichte
- die Hauptrichterräte der Verwaltungsgerichtsbarkeit und der ordentlichen Gerichtsbarkeit in NRW
- den Hauptpersonalrat bei dem Justizministerium des Landes NRW
- die Gewerkschaften und Verbände der Justizangehörigen in NRW