Dienstag 01.09.20, 18:04 Uhr
Rede von Christoph Nitsch, stellv. ertretender Vorsitzender des Kuratorium Stelen der Erinnerung am 31. 8. 2020:

Gedenken an Betti Hartmann


Liebe Wattenscheider und Bochumer Bürgerinnen und Bürger,
werte Anwesende, liebe Freundinnen und Freunde,

wir erinnern heute an Betti Hartmann, die jüngste Wattenscheider Jüdin, die von den deutschen Faschisten in Auschwitz ermordet wurde. Betti Hartmann wurde nur 15 Jahre alt. Wir gedenken ihrer stellvertretend für die sechs Millionen Jüdinnen und Juden, die Opfern des mörderischen Antisemitismusses wurden. Doch unser Gedenken ist nicht nur auf die Vergangenheit gerichtet. Die Opfer des Holocausts sind für uns ein Auftrag, zu den heutigen Geschehnissen nicht zu schweigen. Bertolt Brecht schrieb im Epilog seines Theaterstückes „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ folgende Worte:

„Ihr aber lernet, wie man sieht, statt stiert
Und handelt, statt zu reden noch und noch.
So was hätt‘ einmal fast die Welt regiert!
Die Völker wurden seiner Herr, jedoch
Dass keiner uns zu früh da triumphiert –
Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.“

In Westdeutschland hat es keine so genannte Stunde Null gegeben, mit Ausnahme einiger weniger Hauptkriegsverbrecher kehrten die alten Eliten bald an die Spitze der neuen Bundesrepublik zurück. In Wirtschaft, Politik, Lehre und Forschung, Polizei, Militär und Justiz herrschte dort bis in die 1970er Jahre eine ungebrochene Kontinuität. Einige prominente Vertreter dieser skandalösen Entwicklung seien hier genannt: Theodor Maunz, führender NS- Staatsrechtler und späterer Doktorvater des Altbundespräsidenten Roman Herzog, brachte es später sogar zum bayerischen Kultusminister.

Otmar von Verschuer, einem der leitenden NS- Eugeniker, stand nach 1949 ebenfalls eine große akademische Karriere bevor. Verschuers berüchtigster Doktorand war übrigens ein gewisser Josef Mengele. Die Namen Kiesinger, Globke und Filbinger stehen stellvertretend für die Entwicklung, auch die Schaltstellen der Macht des jungen westdeutschen Staates mit hochrangigen Funktionsträgern des faschistischen Systems zu besetzen. Es würde den heutigen Rahmen sprengen, sämtliche Neofaschistischen Gruppierungen, Parteien und Terrorakte der vergangenen Jahrzehnte aufzuzählen, aber an Einiges sei hier erinnert.

In diesem September jährt sich zum vierzigsten Mal das Attentat auf das Münchener Oktoberfest, bei dem 13 Menschen getötet und 211 verletzt wurden. Unter den Toten befand sich auch der mutmaßliche Attentäter, Gundolf Köhler, der trotz seiner Mitgliedschaft in der neofaschistischen „Wikingjugend“ und guten Kontakten zur „Wehrsportgruppe Hoffmann“ als Einzeltäter eingestuft wurde. Auch heute wimmelt es nur so von Einzeltätern, die antisemitischen und rassistischen Terrormorde von Hanau und Halle, von Pittsburgh und Christchurch, alle begangen von Einzeltätern. Auch im Fall des mutmaßlichen Mörders des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübke liegt der Fokus darauf, ob der einschlägig bekannte und bestens vernetzte Neonazi allein geschossen hat.

Vieles erinnert hier an die vermeintlichen „Ermittlungspannen“ bei der Ermittlungsarbeit an den „NSU“- Morden. Geschredderte Akten und ein Unwille zur Aufklärung der Rolle der Geheimdienste standen und stehen hier der lückenlosen Aufklärung im Wege. Die Amadeu- Antonio- Stiftung geht mit Stand vom 9.3.2020 von 208 Todesopfern aus, die seit 1990 in Deutschland durch rechte Gewalt zu Tode kamen, die Bundesregierung geht lediglich von 109 rechts motivierten Tötungsdelikten aus. Woher stammt diese Diskrepanz? Wieso gerät die SPD- Vorsitzende Saskia Esken in die öffentliche Kritik, weil sie nach einem strukturellen Rassismus in der deutschen Polizei fragt, wo doch das so genannte „racial profiling“ in deutschen Bahnhöfen Gang und Gäbe ist?

Eine Gesellschaft, in der Demonstrationen gegen die Corona- Schutzmaßnahmen von Neofaschisten angemeldet werden, die sich als Schutzpatrone der Grundrechte aufführen, hat ein ernstes Problem. In einem demokratischem Staatswesen, in dem in allen Länderparlamenten und dem Bundestag eine Partei vertreten ist, die es duldet und goutiert, dass einige ihrer Mitglieder immer wieder durch antisemitische, rassistische und homophobe Äußerungen auffallen, läuft offenbar Einiges falsch. Eine Partei, die mit extrem rechten Gruppierungen, wie der „Identitären Bewegung“ zusammenarbeitet und ehemalige neofaschistische Aktivisten in ihren Reihen und ihrem Umfeld duldet, gehört in kein demokratisches Parlament. So eine Partei ist keine „Alternative“, weder für dieses, noch für ein anderes Land.

Wir unterstützen als Stelen der Erinnerung die überparteiliche Initiative „Rathaus nazifrei- keine Stimme für AfD und NPD!“. Es ist von größter Wichtigkeit, dass Ihr alle am 13.9. wählen geht und eure Stimmen demokratischen Parteien oder Gruppierungen gebt, „damit“, um es mit Hannes Bienert zu sagen, „die Nacht nicht wiederkehre!“

Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg!