Sonntag 14.06.20, 19:11 Uhr

Gedenken an drei ermordete Polizist*innen


Azzoncao, ein Polit-Cafè berichtet: »Heute haben wir in Dortmund-Brackel an die drei Polizeibeamten Thomas Goretzky, Yvonne Hachtkemper und Matthias Larisch erinnert, die vor 20 Jahren von dem Dortmunder Rechtsradikalen Michael Berger brutal ermordet wurden. Wie schon in den Jahren 2010 und 2015 haben wir im Unteren Graffweg am Gedenkstein von Thomas Goretzky Blumen hinterlegt und Kerzen aufgestellt.


14.6.2000 Dortmund/Waltrop
Am Mittwoch den 14.6.2000 entdeckten kurz vor 10.00 Uhr der 35-jähriger Polizeikommissar Thomas Goretzky und die 25-jährige Polizeimeisterin Nicole Hartmann aus ihrem Streifenwagen heraus einen Autofahrer, der sich offensichtlich nicht angeschnallt hatte. Die Beamten gaben dem Fahrer des silberfarbenen BMW 325 durch Zeichen zu Verstehen, dass er anhalten soll. Dieser gab Gas und floh. Die Beamten verfolgten ihn. Im Unteren Graffweg in Dortmund-Brackel, eine Sackgasse, kamen beide Fahrzeuge zum stehen. Thomas Goretzky soll ausgestiegen sein, als der Fahrer des Fluchtfahrzeugs das Feuer auf ihn eröffnete. Thomas Goretzky wurde in Brust und Kopf getroffen. Nicole Hartmann versuchte sich aus dem Auto zu retten und erhielt einen Steckschuss in den Oberschenkel. Der Fahrer des BMW flüchtete. Durch die Schüsse alarmiert, eilten Nachbarn herbei und versuchten Erste Hilfe zu leisten. Diese kam für den zweifachen Familienvater Thomas Goretzky zu spät. Die 25-jährigen Nicole Hartmann konnte noch an die Leitstelle den Mord an ihrem Kollegen durchgeben. Eine Großfahndung wurde ausgelöst.

Kurze Zeit später standen die 34-jährige Yvonne Hachtkemper und der 35-jährige Matthias Larisch-von- Woitowitz aus Datteln mit einem Streifenwagen auf dem Randstreifen an der Kreuzung Unterlipper Straße/Ecke Borker Straße in Waltrop. Es ist nicht bekannt, ob sie schon von der Fahndung wussten, als der silberfarbene BMW neben ihnen zu stehen kam. Obwohl die Ampel „grün“ zeigte, hielt das Fahrzeug und aus dem Inneren wurden drei gezielte Schüsse auf sie abgegeben. Yvonne Hachtkemper, die nach der Geburt ihres Kindes aus dem Erziehungsurlaub gekommen war, wurde von zwei Kopfschüssen getroffen. Matthias Larisch-von-Woitowitz, der zusammen mit seiner Frau ein Kind erwartete, erlitt einen Schädeldurchschuss.
Gegen 17.00 Uhr entdeckte ein Passant den gesuchten silberfarbenen BMW des Attentäters auf einem Feldweg an einem Olfener Waldstück. Spezialisten näherten sich dem Auto. Dort fanden sie den Fahrer tot auf. Er soll sich mit einem Kopfschuss selbst getötet haben. Bei dem Täter handelte es sich um den 31- jährigen Michael Berger aus Dortmund-Körne.

Die Tage nach der Tat

Die Betroffenheit und das Medienecho waren groß. Es wurde viel diskutiert über Gewalt gegenüber PolizeibeamtInnen, schärfere Kontrollen, Sicherheitsausrüstungen, Polizisten schilderten in Medien ihren Alltag, ihre Ängste und Sorgen, usw.. Und viel wurde über das persönliche Schicksal der betroffenen Familien berichtet. Denn die Anteilnahme im Ruhrgebiet war sehr hoch. Michael Berger galt allen als Amokläufer, als psychisch Kranker. Titel wie „Aus der Klinik zur Amokfahrt“ zierten die Überschriften der lokalen und regionalen Presse in der folgenden Tagen. Die Zeitungen waren voll von psychologischen Deutungsmustern und vermeintlichen Expertisen. Mahner und angebliche Experten fanden sich für die Kameras ein. Allen galt dabei die Depressionen und die Therapie Michael Bergers als Wegweiser. Der Rest fand sich wie von selbst. Und so schrieb der Focus exemplarisch „Der Fall Berger zeigt beispielhaft, wie ein Psychopath unvermittelt zum Killer werden kann“.
Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Wolfgang Clement sprach anlässlich der zentralen Trauerfeier im Polizeiausbildungsinstitut Selm von „der Sinnlosigkeit und der irrsinnigen Morde“. Und der ermittelnde Staatsanwalt Heiko Artkämper ging davon aus, dass sich Berger durch die Polizei in die Enge getrieben fühlte und „durchdrehte“. Die offizielle Lesart war: Der Täter war ein gefährlicher Irrer.

Es kann nicht sein, was nicht sein darf.
Die Version, dass die Polizistenmorde Taten eines psychisch kranken Mensch war, dass die politische Verankerung des Täters keine Rolle spielte und es sich um einen isolierten Einzeltäter handelte – diese Version stand in den Redaktionsräumen der Medien schon am späten Mittwochsabend fest und hat sich bis heute nicht geändert. Neuere Verdachtsmomente, die sich über den Untersuchungsausschuss im Landtag von Nordrhein-Westfalen ergaben, fristen in den Medien ein Schattendasein und ändern an der offiziellen Version so gut wie nichts.

– der „Waffennarr“
Dabei wurden am gleichen Tag bei einer Durchsuchung in der Wohnung Bergers in Dortmund-Körne ein Kleinkalibergewehr, ein Druckluftgewehr, zwei Pistolen, drei Revolver, eine Splitterhandgranate, Munition, Messer und Sprengstoff gefunden. Auf Grund des Sprengstoffs näherten sich Spezialisten dem BMW dann auch mit äußerster Vorsicht. Vermuteten sie doch eine Sprengfalle. Im Wagen selber fanden sie neben der Tatwaffe, einer FEG-Budapest, einen Revolver und eine schusssichere Weste. Dazu gerade harmlos: noch eine Gaspistole, ein Messer, einen Totschläger. Eine weitere Hausdurchsuchung am Donnerstag beförderte eine versteckte Schusswaffe in einer Zwischendecke und eine Weitere in einem Spielautomaten zu Tage. Wie passte das zusammen? Ein depressiver Mensch mit einem ausgeprägten Hang zur Aggression?
Woher kamen die Waffen, die er zum Teil in seiner Wohnung versteckte, für die er keinen Waffenschein und -besitzkarte besaß und die er in einem Wald in Olfen ausprobierte? Ein Waffenarsenal, das ausreichte um eine komplette kriminelle Kleingruppe aus zu rüsten? Wie kam es, dass ein Mehrfach-Mörder so schnell zu einem Waffen-„Narr“ gemacht wurde?

– die „politische Affinität“ eines Einzeltäters

Auf dem Fahrzeug Bergers fanden sich zwei Aufkleber. Der eine ist von der Nazi-Band „Landser“. Hier stand in Frakturschrift „Republik der Strolche“. Dies ist der Titel der 1995 veröffentlichten und im September 1996 indizierten CD dieser Naziband. „Landser“ ist die erste Musikband, die vom Bundesgerichtshof (im Jahre 2005) als kriminelle Vereinigung eingestuft wurde. In dem gleichnamigen Lied aüf der CD heißt es: “…Republik der Strolche. Demokraten, Diktatur! Republik der Strolche. Polizeistaat pur!… …Die tollen Ausländer Freunde. Diese “Multi-Kulti-Fetischisten” sind die wahren Verfassungsfeinde… …Und in Bonn hockt dieses Lumpenpack… …Der ist nichts weiter als ein Volksverräter und gegen den wird Widerstand zur Pflicht!…“
Der zweite Aufkleber auf Bergers BMW lautete: „Töte sie alle…Gott wird seine Wahl treffen.“
Der Presse galten die Aufkleber als Ausdruck des allgemeinen Hasses Bergers. Oder als „makaber“. Die Idee, die Aufkleber in den politischen Kontext zielgerichteter antidemokratischer und inhumaner rechtsradikaler Hassphantasien zu stellen, kam der Presse nicht.
Bei den Hausdurchsuchungen wurden Bergers Mitgliedsausweise der „Republikaner“ und der „DVU“ gefunden. Ein paar Tage später wurde weiterhin bekannt, dass Berger Sympathisant der NPD war und zum Umfeld der „Kameradschaft Dortmund“ unter Siegfried Borchardt gehörte.

Flugi2

Belegt wurde dies zudem dadurch, dass nach den Morden im Dortmunder Stadtbild Aufkleber der Kameradschaft Dortmund auftauchten. Auf denen stand :„Berger war ein Freund von uns. 3 zu 1 für Deutschland. KS Dortmund.“ Auf Grund dessen fand bei einem 23jährigen Nazi eine Hausdurchsuchung statt und Aufkleber und Flugblätter gleichen Inhalts wurden beschlagnahmt.

Des weiteren wurde die von Bürgerinnen eingerichtete Trauerstätte für die Beamtinnen in Brackel geschändet. Und unweit an einer Mauer die Sätze „Scheiß Bullen! Krepieren sollen sie alle! Elendig!“gesprayt. Schon in der Nacht zum Donnerstag sprühten Unbekannte in einem vier Meter langen und ein Meter hohen Schriftzug „3 weniger“ an die Hiltruper Polizeiwache. Und vor Bergers Wohnsitz wurden Blumen abgelegt. Alles Hinweise auf eine gute Einbindung Bergers in die rechtsradikale Szene Dortmunds. Berger verlor zudem 1999 seinen Arbeitsplatz wegen rechtsradikaler Agitation. Für den ermittelnden Staatsanwalt stand aber fest, dass Berger lediglich eine „rechtsradikale Affinität“ hatte. Seine politische Einstellung und das Maas an Organisiertheit in der rechte Szene hätten nichts mit den Morden zu tun. Also kein politischer Hintergrund, allein ein psychisch entgleister Einzeltäter. Kurzfristig tauchte der Verdacht in den Medien auf, Berger wäre in die Vorbereitung in einen faschistischen Anschlag verwickelt gewesen und seine Morde hätte er aus Angst vor Entdeckung seiner Waffen im Fahrzeug begangen. Aber so plötzlich die Meldung auftauchte, so schnell verschwand sie wieder. Und auch die Morde selber verschwanden schnell aus der Berichterstattung. Kaum war die viertägige Trauerbeflaggung des Bundeslandes NRW abgehangen, schwand das öffentliche und das mediale Interesse. Das gleiche geschah 15 Jahre später mit den Hinweisen aus dem NSU-Ausschuss des NRW-Landtags, nach denen Berger in „Combat 18“ – Aktivitäten verstrickt gewesen sein soll und für den Verfassungsschutz tätig gewesen sei. Kaum waren die Verdachtsmomente offengelegt gingen Politik und Presse den gewohnten Weg der unaufgeregten Verdrängung. An der offiziellen Version eines irren Einzeltäters wird, darf nicht, gerüttelt werden.

Fazit

– Zurück blieben mehrere schwer traumatisierte Familien, Bekannte und Freundinnen der drei Beamtinnen.
– Zurück bleibt die Erkenntnis, dass drei Polizeibeamte von einem Nazi ermordet wurden, weil er für eine NS-Diktatur schwärmte und Antidemokrat war. Dass die drei Beamtinnen ihm als Repräsentanten der von ihm gehassten BRD galten. Ein Umstand, den die Verantwortlichen dieses Landes nicht anerkennen und der sie als vermeintliche Demokraten so fragwürdig und erbärmlich macht.
– Zurück bleibt der schlechte Beigeschmack einem Schauspiel mangelnder Verantwortung öffentlicher Institutionen, einem fehlenden Willens die Demokratie zu verteidigen und einer politischer Parteinahme für rechte Strukturen beigewohnt zu haben, bzw. beizuwohnen.
– Zurück bleibt eine Bevölkerung, die weiß, dass sie – will sie in Demokratie und Freiheit leben – sich auf diesen Staat und seine Vertreter*innen nicht verlassen kann.