Stellungnahme des ver.di-Fachbereichs Handel zu Sonntagsöffnungen 2012
Dienstag 24.01.12, 08:00 Uhr

Bedenkliche Umgehensweise


Sehr geehrter Herr Wendt,
vor fast genau einem Jahr haben wir eher unaufgefordert in unserem Schreiben vom 04.03.2011 an Frau Oberbürgermeisterin Dr. Ottilie Scholz unsere Position zu verkaufsoffenen Sonntagen dargestellt. Wir schrieben von der bedenklichen Umgehensweise mit dem LÖG NRW. Weder der Antrag noch der Ratsbeschluss wurden dem Schutz-und Einschränkungscharakter des Gesetzes gerecht. Möglichkeiten der Begrenzung wurden nach Umdeutung zur Ausweitung von Sonntagsöffnungen verwendet.
Auch in 2011 wiesen wir auf die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten im Handel hin. Diese waren und sind geprägt von Existenzangst und Angst die eigene Meinung zu sagen (es sei denn, sie stimmt überein mit den Arbeitgebern und deren Vertreter).
Die Existenzangst ist nach wie vor begründet. Die immer mehr abgeforderte Flexibilität bringt für viele, vor allem weibliche Beschäftigte, die Angst Leben und Beruf nicht mehr „unter einen Hut“ zu bringen. Die Leittragenden sind Kinder und Familien.
Existenzangst erzwingt auch Zustimmung. Zustimmung zu immer mehr prekären Arbeitsverhältnissen. Verzicht und Mehrbelastung für den vermeintlichen Erhalt des Arbeitsplatzes, Verzicht auf Arbeitsstunden (immer mehr Teilzeitbeschäftigung, immer mehr Minijobs), Verzicht auf tarifliche Bezahlung und die Anwendung anderer  tariflicher Standards. Nur eine Spitze des Eisberges ist bekannt, wenn wir von Armut bei Vollbeschäftigung reden. Es ist obsolet Dumpinglöhne bis zu 3,50€ zu hinterfragen. Es gibt sie nicht nur bei Tankstellen und Trinkhallen sondern auch kleine und mittlere Unternehmen bis zu großen Konzernen machen vor derartiger Ausbeutung nicht Halt (dies alles unter unseren Augen, „Kunde König“ interessiert dies schon gar nicht).
Existenzangst erzwingt auch immer mehr befristete Arbeitsverträge. Es ist keine Seltenheit, dass Menschen weit über 10 Jahre befristet beschäftigt werden. In vielen Fällen könnten Betroffene sich wehren. Die Existenzangst verhindert dies. Nicht nur Altersarmut ist eine zwangsläufige Folge.
Schon heute, bei Vollzeitbeschäftigung geraten Menschen so in die Nähe der Armutsgrenze.
Seit zwölf (12)  Jahren sind die Tarifverträge des Einzelhandels und des Großhandels nicht mehr allgemein verbindlich. In dieser Zeit öffnete sich die Schere zwischen noch tarifgebundenen und nicht gebundenen Beschäftigten bei den Löhnen um mehr als 17%. Urlaubs- und Weihnachtsgeld entfielen ganz oder wurden nur noch anteilig gezahlt. Rechnen wir noch die nicht mehr gezahlten Zuschläge für Nachtarbeit, Spätöffnungsarbeit, Mehrarbeit und Feiertags- und Sonntagsarbeit, vermögenswirksame Leistung und tarifliche (Zusatz)-Altersversorgung hinzu, liegen wir bei über 20% niedrigerem Verdienst.
Existenzangst ist auch die Ursache, wenn einerseits dringend erforderliche Betriebsräte gewählt werden müssten, die erforderlichen Menschen aber den Mut nicht aufbringen, initiativ zu werden. Zwar kann ein Arbeitgeber letztlich nicht wirklich was tun, aber schon die Angst vor Repressalien reicht aus, um auf demokratische Rechte zu verzichten. Es wird immer wieder auch davon berichtet, wie Vier-Augen-Gespräche verlaufen. Danach will niemand mehr was.
Arbeiten um zu leben, gut arbeiten um gut zu leben. So sollte es sein. Die Realität sieht sehr oft sehr anders aus. Sehr viele Menschen leben offensichtlich um zu arbeiten. Es bleibt keine Zeit mehr für Familie, Freunde, Vereine, für Kultur und Spaß und schon gar nicht für das so viel gepriesene Ehrenamt. Die Beschäftigten „funktionieren“ nur noch. Sie funktionieren, bis sie ausgesaugt sind. Und wenn dann die Kräfte nachlassen und früher oder später Krankheiten folgen, wird rausgemobbt, krankheitsbedingt gekündigt (auch mit anerkannter Schwerbehinderung) oder es werden Arbeitsverträge so geändert, dass die Menschen von allein gehen.
Natürlich gibt es auch Betriebe mit Betriebsrat, mit Tarifbindung oder vereinzelte Betriebe mit akzeptablen Arbeitsverträgen, aber auch hier ist zu spüren, wie dramatisch sich die Situation im Handel verändert hat. Existenzangst hinterlässt auch hier Spuren, auch in Vorzeigebetrieben. Viel Negatives hinnehmen, auf seine Rechte verzichten, nicht den Mund aufmachen, nicht auffallen). Dumpinglöhne stellen wir vereinzelt auch hier fest, Ausbeutung von Auszubildenden ist auch hier nicht immer fremd. Eher die Regel ist das Hineinzwingen in Arbeitszeiten (auch bis hin zu Verstößen gegen Schutzgesetze). Gemeinsam mit unseren Betriebsräten müssen wir immer öfter gegen solche Auswüchse von Willkür ankämpfen.
Das ist der Hintergrund vor dem wir eine Bewertung abgeben zu der Frage nach verkaufsoffenen Sonntagen.
Verkaufsoffene Sonntage verstärken alle hier dargestellten Umstände und Missstände.
Es muss, auch gerade vor diesem Hintergrund, die Frage beantwortet werden, welches öffentliche Interesse denn eigentlich eine Sonntagsöffnung rechtfertigt.
Eine irgendwie geartete Versorgungsfrage, kann nur mit „nicht erforderlich“ beantwortet werden. Kein einziger verkaufsoffener Sonntag ist auf dieser Grundlage erforderlich, auch nicht bezogen auf die Besucher eines Festes. Ein Fest versorgt seine Besucher selbst.
Auch die verschiedenen Feste können dafür kein Grund sein. Wie das Fest auch heißt, ein öffentliches Interesse an einer Sonntagsöffnung … ? Die Beschäftigten im Handel haben weder eine Unterhaltungsfunktion, noch dürfen sie ausgeschlossen werden von der Möglichkeit an diesen Festen selbst teilzunehmen. Alle diese Feste sind wunderschöne Veranstaltungen und sehens- und besuchenswert.
Das berechtigte Bedürfnis der Bevölkerung (und dazu gehören doch wohl auch die Beschäftigten des Handels) ein schönes Fest zu besuchen und zu erleben, muss und wird von dem jeweiligen Fest selbst befriedigt werden.
Wir sehen uns durchaus im Einklang mit einigen Mitgliedern des Rates, die schon lange mit uns gemeinsam bemerken, dass Sonntagsöffnungen keinen Sinn machen. Auch Einzelhändler haben dies, wenn auch nicht laut und öffentlich, kund getan. Bei der Anhörung zur LÖG-Evaluation, vor wenigen Tagen im Landtag, war sogar ein Arbeitgebervertreter nicht allein, der Betriebsaufgaben und Insolvenzen auf zusätzliche Ladenöffnungen zurückführte.
Zusätzliche Ladenöffnungen, so auch Sonntagsöffnungen, nutzen nur den ganz Großen. Die suchen zu heutigen Zeiten, wo der Markt aufgeteilt ist, wo Flächenexpansion an seine Grenzen gelangt, die Nischen in die sie hinein expandieren können. Diese Nieschen entstehen, wenn immer mehr Klein- und Mittelbetriebe aufgeben müssen.
Zusätzliche Öffnungszeiten erhöhen den Konkurrenzdruck, verändern die Kosten-, Nutzenrechnung. Der Euro, der heute ausgegeben wird, kann morgen nicht noch einmal ausgegeben werden. Und wer sich am Sonntag mit einer Ware versorgt hat, tut dies nicht am nächsten Tag noch einmal.
Die großen Unternehmen und Konzerne haben andere Kalkulationen und halten bei zusätzlicher Ladenöffnung (Sonntagsöffnung) und damit einhergehender geringerer Wirtschaftlichkeit länger durch.
Diese Konkurrenz der Großen gegen die Kleinen gilt auch für ganze Städte. So wie kleine und mittlere Händler sagen, man wolle ja eigentlich nicht, aber aus Gründen der Konkurrenz bliebe einem ja nichts anderes übrig, so machen auch ganze Städte den Sonntagsöffnungsreigen mit, ohne oder obwohl klar ist, dass tendenziell der Größere gewinnt. Die Zentralität des Bochumer Einzelhandels in Bezug auf Herne wird im Laufe der Zeit immer mehr zu Lasten von Herne gehen. Das gilt auch Richtung Süden. Aber was ist mit Bochum Richtung Osten oder Westen. Da ist Essen und Dortmund wohl eher der Mühlstein und Bochum das Korn. Aber man muss ja mitmachen. Wenn nicht, machen ja die anderen ein Zusatzgeschäft. Niemand betrachtet die Tendenz. Die Augen verschließen, ändert aber nichts an den Realitäten. Gerade im Ballungsraum Ruhrgebiet wird es Zeit diese Konkurrenz zu beenden. Besuchen wir uns gegenseitig. Feiern wir große Feste. Aber bitte nicht zu Lasten von Minderheiten wie kleine und mittlere Kommunen, kleine und mittlere Betriebe und nicht zuletzt … nicht zu Lasten der Beschäftigten im Handel.
Es muss auch mal wieder daran erinnert werden, dass der absolut größte Teil der Menschen in den Einzelhandelsbetrieben Frauen sind. Alles oben Beschriebene, alle Angst, alle Ungerechtigkeit und alle Notwendigkeit eine Veränderung herbei zu führen, bezieht sich besonders auf diesen Teil unserer Gesellschaft. Familie als soziale Einheit und Gesamtaufgabe, Erziehung im Besonderen, Buchhaltung, Gesundheitsdienst und nicht zuletzt die Tätigkeiten einer Reinigungskraft, einer Köchin, einer „Taxifahrerin“ … usw., ach ja, und dann noch der Job im Einzelhandel. Da fehlt auch noch die praktizierte Partnerschaft. Für viele unserer Kolleginnen ist der Sonntag der einzige „freie“ (natürlich nur auf den Job bezogen) Tag in der Woche. Da darf im Jahr nicht einer fehlen.
Diese freien Sonntage dürfen nicht wirtschaftlichen Interessen oder dem Wunsch nach unbeschwertem Vergnügen der Bevölkerung geopfert werden.
Der Rat unserer Stadt sollte auch dieses Jahr wieder daran denken, dass wenige Wochen später, nämlich am 08. März, zum internationalen Frauentag, das eine oder andere Ratsmitglied wichtige Dinge sagt und schreibt. Für den Ratsbeschluss erhoffen wir Konsequenzen im Sinne unserer Darstellung, erhoffen wir eine authentische Entscheidung, denn die Worte und Sätze zum 08.März werden gut und richtig sein.

Wir verbleiben mit freundlichem Gruß

Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft
Bezirk Bochum-Herne

Helmut Süllwold
Gewerkschaftssekretär
Bezirksfachbereich Handel