Pressemitteilung der Unabhängigen Sozialberatung vom 25.2.2008
Montag 25.02.08, 18:00 Uhr
Heizkostenentscheidung begrüßt

Den Bock zum Gärtner machen?


Wir begrüßen die Entscheidung (1), die Heizkostenrichtlinie für Hartz IV-Abhängige, BezieherInnen von Leistungen der Sozialhilfe, der Grundsicherung und nach dem Asylbewerberleistungsgesetz überarbeiten zu lassen und bis dahin von Kürzungen abzusehen (2). Damit die Verwaltung (federführend: Sozialamt) zu beauftragen hieße allerdings den Bock zum Gärtner zu machen.
Es ist zu befürchten, dass diese versuchen wird, ihr bisheriges „rechtswidriges Handeln“ (so Bundestagsdrucksache BT 16/4785) (3) fortzusetzen. Dieses stammt aus der Sozialhilfepraxis und ist nicht kostendeckend.
Das Landessozialgericht (LSG) NRW hat bereits vielfach mit eindeutiger Tendenz zu dieser Fragestellung entschieden (s.u.), am 21. 12. 2008 mit der Qualifizierung als „absolut herrschende Meinung“ (bezogen auf alle anderen LSGs). Es besteht auf einer „stark einzelfallbezogenen Betrachtungsweise“. Von der erwarteten Entscheidung (s.u.) erhofft selbst die Verwaltung nichts Anderes.
Für Grundsatzentscheidungen ist im Übrigen das Bundessozialgericht zuständig. Das dort anhängige Verfahren wird möglicherweise noch Jahre auf sich warten lassen. Es hat allerdings bereits am 23.11.2006 eine Vorentscheidung getroffen (s.u.).
Sozialamt und ARGE Bochum arbeiten mit einer veralteten Version der VDI- Richtlinie 2067 mit Gradtagen und Berichtigungs- bzw. Korrekturfaktoren, deren Anzahl mit der Aktualisierung dieser Richtlinie anstieg. Durch die Weiterentwicklung der computergestützten Simulationstechnik konnten logische Probleme dieser alten VDI 2067 belegt werden. Außerdem genügt diese Richtlinie in keiner Weise mehr den heutigen Ansprüchen.
Dabei ist es doch so einfach: eine wie auch immer begründete und in welcher Höhe gezogene Grenze, unterhalb derer Heizkosten unbesehen akzeptiert werden, erübrigt nicht, dass für jeden weiteren Einzellfall die individuellen Gegebenheiten aufwändig ermittelt und bewertet werden müssen.
Das können nur zugelas­sene Bausachverständige oder Heizungssachverständige und Gebäudeenergiebe­raterInnen leisten – auf keinen Fall genügt eine Inaugenscheinnahme („Hausbesuch“) durch den „Bedarfsermittlungsdienst“ der ARGE.
Hinzu kommen subjektive Faktoren die nicht beeinflussbar sind und in der Medizin unter dem Begriff „Konstitution“ erfasst werden (dazu gehören Einflüsse des Hormongeschehens, der Stoffwechsel- und Verdauungsorgane, die Muskelmasse, Kreislaufaktivitäten, psychische Faktoren – ganz zu schweigen von Alter (oder Kindheit) und krankheitsbedingten Einflüssen.
Wissenschaftliche Untersuchungen haben ergeben, dass Unterschiede im Wärmeverbrauch innerhalb einer Wohnanlage bis zum 7,5fachen möglich und hauptsächlich auf die hier beschriebenen Ursachen zurückzuführen sind. Diese doch erheblichen Unterschiede sind übrigens nicht nur von Messdienstunter­nehmen festgestellt worden, sondern auch wissenschaftlich belegt.
Wir haben das in unser Schrift „Nutzerunabhängige wärmetechnische Faktoren“ (4) ausführlich dargelegt.
Ein solches rechtlich zwingendes Vorgehen wäre allerdings mit hohen Kosten verbunden: so ist alleine ein SachbearbeiterInnenstunde mit etwa 80 Euro zu veranschlagen (incl. Arbeitsplatz und Ausstattung). Ein Gebäude-Energiegutachten kostet je nach Gebäudegrösse 250,— bis 500,– Euro, eine Einschätzung der persönlichen Bedarfssituation 100,– bis 200,– Euro. In ähnlicher Größenordnung können die Kosten eines Rechtstreits hinzukommen. Darum ist schon allein aus Wirtschaftlichkeitserwägungen die Prüfgrenze hoch anzusetzen.
Bürokraten scheuen allerdings die Bürokratie wie der Teufel das Weihwasser. Darum neigen sie zur Vereinfachung, wobei sie deren negative Folgen den Betroffenen aufbürden wollen. Verwaltung ist auch nicht an Recht und Rechten interessiert, sondern am reibungslosen Ablauf ihrer Verwaltungsvorgänge – zu Lasten der Betroffenen.
Zu erwägen wäre, ob ein Arbeitskreis aus Sozialamt, Mieterverein, Haus und Grund, Wohnungsgesellschaften, Beratungsstellen, Interessenvertretungen und Ombudsstelle sich dieser Frage annehmen sollte. Für „Ausreißer“ könnte eine gemeinsame Clearingstelle eingerichtet werden. Der Dt. Mieterbund bringt diese Erwägung seit einiger Zeit ins Gespräch.
Das zuständige Bundesministerium, um Nutzung der Verordnungsermächtigung aus § 27 SGB II angefragt, hat bereits abgewunken: sie halten die Rechtsentwicklung durch die Gerichte für gut und ausreichend.
Wie die Pressestelle des SG Dortmund heute auf Anfrage mitteilte, sind derzeit 609 (sechshundertneun!) Fälle aus Bochum zur Entscheidung anhängig. Das sind 127 mehr als im Oktober 2007. Darunter sicherlich eine große Zahl zum Thema „Heizkosten“ – eine genaue Zahl ist hier nicht bekannt.
Aus einem vertraulichen Abschlussbericht der Innenrevision der BA geht hervor, dass die Revisoren in 66,5 Prozent aller Ende 2006 bundesweit geprüften Vorgänge fehlerhafte Rechtsanwendungen fanden.
Seitens der Spitze der Kommunalpolitik durch alle Etagen des Sozialamtes und der ARGE ist immer wieder die gleiche stereotype Begründung zu hören: es handele sich um ein neues Gesetz, da müsse sich erst Rechtssicherheit entwickeln.
Aber doch nicht zu Lasten der Betroffenen!

Norbert Hermann für die Unabhängige Sozialberatung
ANLAGEN
(1) Die Meldung über die Heizkostenentscheidung

(2) Das Heizkostenmoratorium

(3) Bundestagsdrucksache BT 16/4785

(4) Nutzerunabhängige wärmetechnische Faktoren

5. LSG_NRW_Übersicht_Heizkostenentscheide

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LSG_NRW_05-09-28 + 05-12-06_Heizkosten wie Abschlag

L_19_B_68-05_AS_ER_Heizkosten wie Abschlag

LSG_NRW_L 19 B 68/05 AS ER 06.12.2005 rechtskräftig

http://www.sozialgerichtsbarkeit.de/sgb/esgb/show.php?modul=esgb&id=25457&s0=&s1=&s2=&words=&sensitive=

“ … Grundsätzlich ergibt sich die Höhe der als angemessen anzusehenden Heizungskosten aus den von den Energieunternehmen festgesetzten Vorauszahlungen …„

LSG_NRW_06-05-24_Heizkosten_wie_tatsächlich

L_20_B_84-06_AS_ER_Heizkosten_wie_tatsächlich

LSG NRW L 20 B 84/06 AS ER vom 24.05.2006

http://www.sozialgerichtsbarkeit.de/sgb/esgb/show.php?modul=esgb&id=55592&s0=&s1=&s2=&words=&sensitive=

„ … Senat hat sich in einem Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bereits für eine stark einzelfallbezogene Betrachtungsweise ausgesprochen … “

LSG_NRW_06-06-08_Berufung_zugel_zu_Heizkosten

L_20_B_63-06_AS_NZB_Berufung_zugel_zu_Heizkosten

LSG_NRW_L 20 B 63/06 AS NZB 08.06.2006 rechtskräftig

http://www.sozialgerichtsbarkeit.de/sgb/esgb/show.php?modul=esgb&id=55743&s0=&s1=&s2=&words=&sensitive=

„ … Der unbestimmte Rechtsbegriff der Angemessenheit von Heizkosten und die hierzu durch die Beklagte grundsätzlich praktizierte Verfahrensweise bedürfen der sozialgerichtlichen Überprüfung. Der Rechtssache misst der Senat daher grundsätzliche Bedeutung bei. … „

!! Auf diese Entscheidung wird nun gewartet !!

LSG_NRW_07-5-21_PKH_Heizkosten_wie­_tatsächlich

L_1_B_49-06_AS_PKH_Heizkosten_wie­_tatsächlich

LSG_NRW_L 1 B 49/06 AS 21.05.2007 rechtskräftig

http://www.sozialgerichtsbarkeit.de/sgb/esgb/show.php?modul=esgb&id=67808&s0=&s1=&s2=&words=&sensitive=

„ … Die Höhe der laufenden Kosten für die Heizung ergibt sich entweder aus dem Mietvertrag oder aus den Vorauszahlungsfestsetzungen der Energieversorgungsunternehmen, für die eine Vermutung der Angemessenheit spricht, sofern nicht durchgreifende Anhaltspunkte für ein unwirtschaftliches und damit unangemessenes Heizverhalten gegeben sind …“

LSG_NRW_07-05-23_Heizkostenkürzung_nicht_zulässig

L_20_B_77-07_AS_ER_Heizkostenkürzung_nicht_zulässig

LSG NRW L 20 B 77/07 AS ER 23.05.2007 rechtskräftig

http://www.sozialgerichtsbarkeit.de/sgb/esgb/show.php?modul=esgb&id=68079&s0=&s1=&s2=&words=&sensitive=

Die Anwendung von an Durchschnittswerten orientierten Pauschalen bei der Übernahme von Kosten für Heizung widerspricht bei summarischer Prüfung der gesetzlichen Regelung. Nach § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II werden Leistungen für Unterkunft und Heizung in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen erbracht, soweit diese angemessen sind. Mit dem BSG (Urteil vom 23.11.2006, B 11b AS 3/06 R -Rz. 32) weist der Senat darauf hin, dass sich die Leistungen für Heizung an den tatsächlichen Aufwendungen orientieren müssen.

(http://juris.bundessozialgericht.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bsg&Art=en&sid=8522abe36e55d15436e8f3a90d11c51a&nr=9857&pos=0&anz=1)

Dabei ist der Begriff der Angemessenheit als unbestimmter Rechtsbegriff in vollem Umfang gerichtlich überprüfbar (Berlit, in: LPK-SGB II, § 22 Rn. 25). Die Angemessenheit von Heizkosten hängt auch bei sparsamem Umgang mit Heizenergie von zahlreichen Faktoren ab, die überwiegend nicht zur kurzfristigen Disposition der Hilfeempfänger stehen (etwa von der Lage der Wohnung im Gesamtgebäude, von der Geschosshöhe, der Wärmeisolierung, der Heizungsanlage, von meteorologischen Daten, von der Größe der Unterkunft, von besonderen persönlichen Verhältnissen). Dies erschwert nachhaltig die Feststellung, wann Heizkosten im konkreten Fall angemessen sind und wann nicht. Ohne konkrete Anhaltspunkte für ein unwirtschaftliches Heizverhalten ist deshalb eine Kürzung auf vom Leistungsträger als angemessen erachteten Richtwerte nicht zulässig …

… Im Übrigen ist bei einem Vergleich mit dem Verbrauchsverhalten etwa erwerbstätiger Personen zu beachten, dass sich Hilfeempfänger naturgemäß in der Regel länger, weil auch während der – heizungsintensiveren – Tagzeit in der eigenen Wohnung aufhalten …

… … Dazu bedarf es notwendigenfalls auch entsprechender tatsächlicher Erhebungen im Rahmen der Amtsermittlungspflicht der Antragsgegnerin. All diesen notwendigen Aufwand durch Anwendung von Durchschnittswerten zu umgehen, ist jedenfalls solange nicht zulässig, als eine Verordnung im Sinne von § 27 Nr. 1 SGB II nicht existiert …

… Ggf. sind entsprechende nähere Ermittlungen – z.B. auch durch Einschaltung eines Gutachters – im Hauptsacheverfahren nachzuholen. …“

LSG_NRW_07-09-21_HK-Kürzung_techn_Dienst_nur

L_7_B_226-07_AS_ER_HK-Kürzung_techn_Dienst_nur

LSG_NRW L 7 B 226/07 AS ER 21.09.2007 rechtskräftig

http://www.sozialgerichtsbarkeit.de/sgb/esgb/show.php?modul=esgb&id=72145&s0=&s1=&s2=&words=&sensitive=

Auszüge:

„ … Die Angemessenheit von Heizkosten hängt auch bei sparsamem Umgang mit der Heizenergie von zahlreichen Faktoren ab, die überwiegend nicht zur kurzfristigen Disposition der Hilfeempfänger stehen (etwa der Lage der Wohnung im Gebäude, der Geschosshöhe, der Wärmeisolierung, der Heizungsanlage, der Größe der Wohnung und der besonderen persönlichen Gegebenheiten). Dadurch wird die Feststellung, wann Heizkosten im konkreten Fall angemessen sind, erschwert. Die Höhe der zu übernehmenden Heizkosten ergibt sich in der Regel aus dem Mietvertrag (Zentralheizung) bzw. den Festsetzungen der Energieversorgungs- (Gas und Strom) oder Fernwärmeunternehmen. …

… Will die Behörde hiervon abweichen, bedarf es im Rahmen der Amtsermittlungspflicht gegebenenfalls auch entsprechender tatsächlicher Erhebungen …

.. die Ermittlung der angemessenen Heizkosten erfolgte im Anschluss an die Ortsbesichtigung von Herrn X vom Technischen Dienst der Stadt S. Danach wird bei der Antragsstellerin wegen der tatsächlichen Wohnverhältnisse ein erhöhter Heizbedarf von 30% ausgehend von einem Sockelbetrag (u.a. gebildet unter Berücksichtigung der VDI-Richtlinie 2067, der Heizungsart, einer Wohnungsgröße von 45 qm für Alleinstehende) anerkannt und aktuell ein Betrag von 57,20 Euro gezahlt. … “

LSG_NRW_07-12-21_HK_wie_Abschläge_absolut_herrschend

L_19_B_157-07_AS_HK_wie_Abschläge_absolut_herrschend

LSG_NRW_L 19 B 157/07 AS 21.12.2007 rechtskräftig

http://www.sozialgerichtsbarkeit.de/sgb/esgb/show.php?modul=esgb&id=74919=

„ … Wie das Sozialgericht nimmt auch der Senat in Übereinstimmung mit der wohl absolut herrschenden Meinung an, dass sich die Angemessenheit der im Einzelfall nach § 22 SGB II zu übernehmenden Heizkosten regelmäßig aus der Höhe der vom Leistungsempfänger zu zahlenden Abschläge ergibt, solange keine Hinweise auf mißbräuchliches Heizverhalten vorliegen … „