Sonntag 08.10.17, 18:47 Uhr
Knut Rauchfuss anlässlich der Jubiläumsfeier der MFH:

Zurück auf Los


In der Eröffnungsrede auf der Jubiläumsfeier der Medizinischen Flüchtlingshilfe Bochum (MFH) erinnerte Vorstandsmitglied Knut Rauchfuss, einer der Initiatoren der MFH, an die politische Situation vor 20 Jahren und verglich sie mit dem, was wir heute erleben: »Liebe Freundinnen und Freunde, liebe Mitstreiterinnen und Mitstreiter, wenn einer aufsteht, um eine Jubiläumsrede zu halten, dann erwartet man im allgemeinen ein paar Worte zu Ehren des Jubilars bzw. der Jubilarin, eine Chronologie über den persönlichen Werdegang oder Anekdoten über lustige Begebenheiten und nicht zuletzt eine Aufzählung von positiven Eigenschaften.
Auch wenn die Geschichte der Medizinischen Flüchtlingshilfe in den zwanzig Jahren seit ihrer Gründung reichlich Stoff bietet, eine Rede nach diesen Standards zu stricken, so will ich diese eingetretenen Pfade heute einfach mal verlassen.
Ich möchte Sie und Euch stattdessen vielmehr mit der Frage konfrontieren: Was hat sich eigentlich zwischen damals und heute wirklich verändert? Wozu konnten wir vielleicht ein klein wenig beitragen? Und welche Herausforderungen stellen sich für die Zukunft?
Die Älteren hier im Saal werden sich noch erinnern: Die 1990er Jahre waren in Europa – neben dem Ende des kalten Krieges – vor allem geprägt durch die Zerschlagung des jugoslawischen Staates in vier Balkankriegen und durch den Versuch der brutalen Niederschlagung des kurdischen Aufstands in der Türkei.
Fast täglich konnte man auf den Fernsehbildschirmen die mörderischen Konsequenzen der Ethnisierung sozialer Spannungen und das Aufwallen nationalistischer Hetze vor allem in Serbien, Bosnien, Kroatien und im Kosovo beobachten. In den daraus folgenden Kriegen wurden geschätzt etwa 250.000 Menschen ermordet. Ortsnamen wie Srebrenica gelten seither als Synonym für Massaker, Massenvergewaltigungen und andere Kriegsverbrechen. Mehrere Millionen Menschen wurden gezwungen ihre angestammten Wohngebiete zu verlassen. Der Begriff der „Ethnischen Säuberung“ eroberte damals die öffentliche Debatte, um die rassistisch motivierten Massenvertreibungen sprachlich weichzuspülen.
Die Balkankriege kennen viele Wahrheiten, ihnen nachzugehen kann nicht Ziel dieser Rede sein. Unstrittig ist aber, dass Hunderttausende ihr Leben nur durch Flucht ins europäische Ausland retten konnten. Etwa 400.000 von ihnen suchten in Deutschland Schutz.
Auch in der Türkei eskalierte in den Neunziger Jahren der Krieg. Vor allem in den kurdischen Regionen des Landes zerstörte die türkische Armee im Zuge der Aufstandsbekämpfung mehrere Tausend Dörfer und ermordete etwa 30.000 Menschen. Aber auch im Westen des Landes wurden türkische und kurdische AktivistInnen von geheimen Todesschwadronen gejagt, verschleppt und gefoltert oder auf offener Straße erschossen. Allein 1995 stellten rund 25.000 Menschen aus der Türkei einen Asylantrag in Deutschland.
Auf dem afrikanischen Kontinent waren es vor allem der Genozid in Ruanda und die Bürgerkriege im Kongo, die die 1990er Jahre bestimmten und als „Afrikas Weltkrieg“ in die Geschichte des Kontinents eingingen.
In Deutschland hatten sich zu Beginn des Jahrzehnts die beiden deutschen Staaten über Nacht in einen einzigen zurückverwandelt und in beängstigender Weise hatte ein nationalistischer Freudentaumel von relevanten Teilen der Bevölkerung Besitz ergriffen. „Wir sind wieder wer“ hieß es an den Stammtischen und auch in der Bochumer Fußgängerzone wurde wieder öffentlich die erste Strophe des Deutschlandliedes gesungen.
Ausgehend von Politikern der Unionsparteien eroberten Begriffe wie: „Asylanten“ oder gleich „Scheinasylanten“, kombiniert mit „Sturm“, „Flut“ oder „Welle“ die mediale Öffentlichkeit, wenn darum ging, Flüchtlinge als Bedrohung dieser neuen Deutschtümelei zu inszenieren.
Und es dauerte nicht lange, da ließen Rechtsradikale diesen Worten auch Taten folgen: Flüchtlingsheime und MigrantInnenwohnungen gingen in Flammen auf. Menschen mit Migrationshintergrund wurden gejagt und ermordet. Städtenamen wie Hoyerswerda, Rostock, Mölln, Solingen und Lübeck symbolisieren bis heute die brutalen Instinkte des neu entstandenen faschistischen Mobs. 179 Todesopfer gehen nach Statistiken der Antonio Amadeu Stiftung seither auf das Konto rechter Gewalt.
Die Bundesregierung aber ließ sich von diesem Mob am Nasenring durch die politische Arena ziehen und agierte im Zwielicht von Verharmlosung und Ansporn.
Und gerade weil immer mehr Menschen dringend Schutz in Deutschland benötigten, liquidierten die Bundestagsparteien der Regierungskoalition und die SPD-Opposition 1992 gemeinsam das im Grundgesetz verankerte Asylrecht, die einen angeführt von Wolfgang Schäuble und die anderen von Oskar Lafontaine.
Die damals im Rahmen des so genannten „Asylkompromisses“ eingeführten Beschränkungen führten dazu, dass seither nahezu niemand mehr politisches Asyl nach diesem Grundgesetzartikel erhält – im vergangenen Jahr z. B. waren es nur noch 0,3 Prozent aller Anträge.
Die Zahl derer, die sich nach 1993 ohne gültige Papiere in Deutschland aufhalten mussten, stieg stetig. Bis zu einer Million Menschen wurden damals in die aufenthaltsrechtliche Illegalität getrieben und kriminalisiert – doch ihr einziges Verbrechen bestand in ihrer bloßen Existenz auf deutschem Boden.
Gegen die faschistischen Anschläge hatte sich in Bochum ab 1992 ein Alarmnetz organisiert, das über eine Telefonkette kurzfristig für die Bewachung von Flüchtlingsheimen mobilisieren konnte. Und aus diesem Netzwerk heraus stellte sich zunehmend auch die Frage der Unterstützung von Flüchtlingen ohne Papiere.
In Frankreich waren die „Sans Papiers“ bereits zu einer sozialen Bewegung geworden und auch in Deutschland begannen erste organisierte Proteste von Flüchtlingen gegen ihre geplante Abschiebung.
Getreu der Devise: „Legal, Illegal? – Scheißegal!“ beschlossen wir also, uns rückhaltlos auf die Seite der Menschlichkeit zu stellen und gründeten die Medizinische Flüchtlingshilfe in enger Zusammenarbeit mit dem Netzwerk „Kein Mensch ist Illegal“.
Die MFH organisierte zunächst speziell und ausschließlich die medizinische Versorgung von Flüchtlingen ohne Papiere. Und streng genommen ist es daher eigentlich diese medizinische Hilfe, die heute 20 oder genauer fast 21 Jahre alt wird. Alles andere, d. h. die psychosoziale Versorgung kam erst später hinzu. Daher möchte ich heute auch speziell dem Sprechstunden-Team gratulieren, das – wenn auch in wechselnder Besetzung – zwei Dekaden lang am Ball geblieben ist, um dem Illegalitätsbegriff der Machthaber in diesem Land zu trotzen.
Heute, zwanzig Jahre später, ist die MFH eine respektable sozialmedizinische Menschenrechtsorganisation. KlientInnen werden unmittelbar darin unterstützt, ihre Rechte in Deutschland wahrzunehmen und hier im Exil einen neuen Lebensentwurf planen, angehen und umsetzen zu können. Zu diesem Zweck betreibt die MFH seit knapp dreizehn Jahren ein Therapiezentrum für Überlebende von Folter und Krieg. Seit fast 10 Jahren sind wir Mitglied im internationalen Dachverband der Therapiezentren, IRCT, der hier heute dankenswerterweise auch vertreten ist.
Aus anfangs einer Therapeutin und einem Sozialarbeiter ist mittlerweile ein fünfzehnköpfiges Team geworden, das insbesondere Überlebende von Folter und Krieg bei der Bearbeitung des Erlittenen und beim Wiederaufbau ihres Lebens stärkt.
Dieses psychosoziale Team unterstützt Flüchtlinge in Bochum und im Ennepe Ruhr Kreis aber nicht nur individualtherapeutisch: Wir helfen zudem bei der Anerkennung im Asylverfahren, beim Erwerb von Aufenthaltstiteln, bei Umverteilungsanträgen, beim Familiennachzug, versuchen Abschiebungen vorzubeugen und beraten in sozialrechtlichen Fragen.
Zu den emanzipatorischen Zielen der MFH zählt es allerdings nicht nur, ihren KlientInnen im Konflikt gegenüber Behörden zur Seite zu stehen. Die MitarbeiterInnen der MFH helfen auch beim Umgang mit rassistischen Alltagserfahrungen und bei Konflikten innerhalb konservativer Familienstrukturen: Wir unterstützen Frauen bei der Durchsetzung ihrer Rechte gegenüber ihren Männern, sowie Kinder und Jugendliche gegenüber ihren Familien oder Vormündern. Und wir unterstützen Flüchtlinge dabei ihre Stimme selbst zu erheben, fördern ihre Selbstorganisation und beteiligen uns an sozialen Protesten.
Das psychosoziale Team, die medizinische Sprechstunde und die internationale Menschenrechtsarbeit – auf die ich gleich noch näher zu sprechen kommen werde – arbeiten daher eng zusammen, unter dem Leitgedanken, Flüchtlinge bei der Durchsetzung ihrer Rechte zu stärken und im Sinne des erweiterten Gesundheitsbegriffs der WHO zu ihrem körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefinden beizutragen.
Ja, die MFH ist eine Menschenrechtsorganisation und dies nicht nur in Bezug auf die Rechte von Flüchtlingen hier in Deutschland. Sie agiert auch international.
Warum eigentlich?
Viel wird heute über die Bekämpfung von Fluchtursachen geredet. Und die, die in den Talkshows und an den Rednerpulten ihr Maul am weitesten aufreißen, meinen damit aber zumeist nur eins: die Bekämpfung von Flüchtlingen, d. h. die billigende Inkaufnahme des Massensterbens an den europäischen Außengrenzen, das absichtsvolle Unterlassen von Hilfeleistung und die schmutzigen Rücknahmedeals mit Diktatoren und Folterregimen.
Die MFH hingegen hat sich vom ersten Tag an stets tatsächlich der Bekämpfung von Fluchtursachen gewidmet. Wissend, dass ein Leben in Deutschland keinesfalls dermaßen angenehm ist, wie es uns die veröffentlichte Meinung glauben machen will, und zur Kenntnis nehmend, dass viele ihr Exil lieber gestern als morgen beenden würden, wenn denn nur die Lebensbedingungen in ihren Herkunftsländern dies zuließen, dies alles verstehend, arbeiten wir in bester internationalistischer Tradition seit 20 Jahren an der Veränderung derjenigen Zustände, die Menschen zur Flucht zwingen.
In Kooperation mit Menschenrechtsorganisationen vor Ort mischen wir uns weltweit ein um gegen Folter und Krieg zu kämpfen. Bianca wird dies in ihrer Rede sicherlich noch vertiefen.
Heute vor 20 Jahren saß ich deshalb in einem Gerichtssaal in Istanbul. Angeklagt war eine Reihe von Leuten, die eine Pressekonferenz besucht hatten, die ich dort zusammen mit einigen weiteren MenschenrechtsaktivistInnen gegeben hatte. Die Anklage adelte uns als so genannte „Friedensterroristen“. Mit Panzern hatten sie uns daran hindern müssen, mit unserem internationalen Buskonvoi ins kurdische Diyarbakir zu gelangen, um dort auf einer Demonstration zum internationalen Antikriegstag, dem 1. September 1997, ein Ende des Blutvergießens zu fordern.
Es war nicht die erste Menschenrechtsdelegation, der sich die Medizinische Flüchtlingshilfe angeschlossen hatte, und es sollte nicht die letzte sein:
Wir dokumentierten systematisch die Menschenrechtsverletzungen, begleiteten MenschenrechtlerInnen, wurden das eine oder andere Mal selbst dabei verhaftet und aus Kurdistan abgeschoben, und wir bewachten nach Bombendrohungen auch jene Intensivstation in Ankara, wo der schwer verletzte Vorsitzende des türkischen Menschenrechtsvereins nach einem Attentat staatlich gelenkter Todesschwadronen um sein Leben kämpfte.
Für eine kurze Dekade der Demokratisierung der Türkei schienen diese finsteren Jahre ab 2002 nach und nach der Vergangenheit anzugehören. Ende 2007 gelang es uns sogar, in der Türkei ein völlig überfülltes Symposium zum Thema Strafverfolgung der Täter abzuhalten. Und überraschenderweise fanden sich kurz darauf tatsächlich eine Reihe Auftragskiller und ihre Hintermänner auf den Anklagebänken türkischer Gerichtssäle wieder. Drei Jahre lang wurden zudem Friedensverhandlungen mit der kurdischen Arbeiterpartei geführt. Die Türkei schien sich zu demokratisieren.
Umso wuchtiger kehrten Krieg und Repression im Sommer 2015 zurück, mit dem Ziel, jene Stimmen wieder zurück zu bomben, die Erdoğans AKP bei den Parlamentswahlen kurz zuvor verloren gegangen waren. Im Herbst hatten sie schließlich ihre Mehrheit wieder.
Und seit dem niedergeschlagenen Putschversuch im Jahr darauf scheint die Türkei nunmehr unaufhaltsam auf dem Weg in die Diktatur.
Und wieder hat die MFH ihre Türkei-Arbeit verstärkt. Erst kürzlich kehrten Bianca und Christian von einer Prozessbeobachtung zur Unterstützung einer befreundeten Menschenrechtlerin aus Istanbul zurück.
Die Menschenrechtssituation in der Türkei ist damit leider zu einer ständigen Begleiterin der Geschichte der MFH geworden und trotz aller Anstrengungen bleibt die ernüchternde Bilanz, dass die Angriffe auf MenschenrechtsverteidigerInnen und unabhängige JournalistInnen heute ein schlimmeres Ausmaß erreicht haben als vor 20 Jahren.
Die Namen der Deutschen Deniz Yücel, Meşale Tolu und Peter Steudtner, die derzeit von der Erdoğan-Diktaur in Geiselhaft gehalten werden, stehen dabei nur stellvertretend für jene mehr als zehntausend Demokratinnen und Demokraten, die in türkischen Gefängnissen systematisch ihrer Freiheit beraubt werden und dringend unsere Solidarität benötigen.
Doch auch wenn die Menschenrechtslage in der Türkei für die MFH ein ständiger Begleiter der letzten 20 Jahre war, so haben uns doch auch viele andere Konflikte und Entwicklungen beschäftigt:
Als wir uns gründeten waren gerade die mittelamerikanischen Bürgerkriege zu Ende und die rassistischen Apartheidregime in Südafrika und Namibia in die Knie gegangen. Auch auf dem südamerikanischen Kontinent übten sich zaghaft die ersten postdiktatorischen Regierungen.
Viele unserer lateinamerikanischen Freundinnen und Freunde beendeten ihr Exil in Deutschland und gingen zurück um die Geschichte ihrer Heimat wieder mit in ihre eigenen Hände zu nehmen – Wir haben sie bis heute nicht vergessen.
Gemeinsam mit Menschenrechtsorganisationen und Therapiezentren – v. a. aus Lateinamerika – entstand ab 1999 die Kampagne „Gerechtigkeit heilt“, mit der die MFH einen Focus darauf legte, die Auftragskiller, Kriegsverbrecher, Folterer und die für schwere Menschenrechtsverletzungen verantwortlichen Schreibtischtäter zur Rechenschaft zu ziehen.
Und der Balkan? Auch wenn auf den Trümmern des ehemaligen Jugoslawien heute wieder Bettenburgen die Touristen locken und die Straßen zumindest in Slowenien und Kroatien in der Sommerzeit mit deutschen Wohnmobilen überquellen: Die Wunden der Balkankriege sind noch kaum vernarbt.
Die Folgen sind auch mehr als 20 Jahre später immer noch deutlich zu spüren, nicht nur, wenn man in der Krajina oder im Velebit unterwegs ist, wo noch immer ganze Landstriche vermint und einige Dörfer aufgrund von Sprengfallen unbetretbar sind, oder wenn das Hochwasser der Save die Landminen davonträgt und sie neu verteilt. Auch viele Kriegsverbrechen sind nach wie vor nicht aufgearbeitet und die Täter waren immer die anderen: die aus dem neu entstandenen Staat nebenan.
Und die, die bis heute am meisten unter den Folgen der Kriege leiden, sind v. a. diejenigen, die sich damals keine Armee, keine Miliz und keinen Nationalstaat zugelegt haben: die Roma. Verfolgt und vertrieben während der Kriege, ignoriert und vergessen während des Wiederaufbaus und unerwünscht in fast allen Nachfolgestaaten fristen viele Familien ein Leben im Elend und in antiziganistisch motivierter Ausgrenzung.
Doch auch wenn man durchaus Zweifel haben kann an der Nachhaltigkeit der Konsolidierung auf dem Balkan: Vergleichsweise hat sich die Lage dort befriedet und in einigen Staaten auch stabilisiert.
Die Kriege heute finden wieder außerhalb Europas statt.
Seit die Regierung Bush und ihre Verbündeten den so genannten „Krieg gegen den Terror“ ausriefen, Afghanistan besetzen und im Irak einfielen, hat sich die Seuche des radikalen Islamismus zu einem Flächenbrand ausgeweitet. Die MFH warnte und protestierte damals vor genau diesen Folgen. Nach den Erfahrungen aus dem 1991 begonnen Bürgerkrieg in Algerien brauchte es keinerlei prophetische Qualifikation um diese Eskalation vorherzusagen.
Umso erregender waren die Hoffnungen, die für einige kurze Jahre ab Dezember 2010 von den als „Arabischer Frühling“ bekannt gewordenen fortschrittlichen und gewaltfreien Revolutionen und Protesten in Tunesien, Ägypten, Jemen, Libyen, Bahrein und Syrien ausgingen.
Die MFH begrüßte den Sturz der Diktatoren, forderte die rechtstaatliche Aufarbeitung der Diktaturverbrechen und unterstützte insbesondere in Syrien – in Zusammenarbeit mit „Adopt a Revolution“ – die zivilen AktivistInnen der frisch entstandenen Basiskomitees.
Liebe Freundinnen und Freunde, ich brauche Euch nicht zu erklären, was danach folgte. Sie alle kennen die Bilder der brutalen Unterdrückung von Veränderung. Die zügellose Wucht der Aufstandsbekämpfung durch die fallenden Regime, die Aneignung des Erreichten durch radikale Islamisten, die interessensgeleitete Einmischung ausländischer Großmächte und die internationale Rekrutierung islamistischer Terrormilizen haben fast den gesamten Nahen und Mittleren Osten erfasst und in eine Katastrophe ungekannten Ausmaßes gestürzt.
Die Bürgerkriege in Syrien und die saudischen Bombardierungen im Jemen haben apokalyptische Zerstörungen hinterlassen, in Libyen reklamieren unterschiedliche Milizen die Macht für sich und der Militärputsch in Ägypten hat das Land nach ganz oben in die Liste der derzeit repressivsten Staaten katapultiert. Der radikale Islamismus verbreitet und militarisiert sich rasant auch in anderen Regionen der Welt, v. a. im Sahelgürtel und in Teilen Ostasiens: Nicht zufällig nennt sich Boko Haram heute „Islamischer Staat Afrika West“.
Einzig in Tunesien versucht eine neue Gesellschaftsordnung zarte Fortschritte umzusetzen, möglichst ohne das demokratische Prinzip des Interessensausgleichs zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Kräften und ihren Weltanschauungen zu verletzen.
Eine Bilanz der Weltlage, 20 Jahre nach Gründung der MFH, muss daher ernüchternd, ja sogar zutiefst besorgniserregend ausfallen. Das UN Flüchtlingshilfswerk überschrieb seinen Jahresbericht 2015 erstmals mit dem Titel: „World at War“. Und auch nach Analysen des Heidelberger Instituts für Internationale Konfliktforschung ist die Zahl der bewaffneten Konflikte mittlerweile auf ein Rekordhoch gestiegen.
In Folge dessen hat sich auch die Zahl der Flüchtlinge gegenüber 1997 weltweit verdoppelt. Heute ist nach UN-Angaben einer von Hundert Menschen auf diesem Planeten ein Flüchtling. Insbesondere der Syrienkrieg hat stark zu dieser Entwicklung beigetragen. Denn etwa jeder zweite Syrer bzw. jede zweite Syrerin befindet sich heute auf der Flucht.
Im Spätsommer 2015 machten sich schließlich Hunderttausende Flüchtlinge aus den Lagern in der Türkei und dem Libanon auf den Weg nach Europa, um ihrer Perspektivlosigkeit ein Ende zu setzen. Gemeinsam mit denjenigen, die schon in Griechenland gestrandet waren, setzte sich ein gigantischer Treck der Unbeugsamen in Bewegung, entschlossen sich nicht durch irgendwelche Landesgrenzen beeindrucken zu lassen.
Erstmals in diesem Ausmaß machten sich Geflüchtete damit als AkteurInnen in Europa sichtbar. Menschengruppen, die zu Fuß über Autobahnen zogen, Flüchtlinge am Bahnhof Budapest Keleti, die sich unterhakten und gegenseitig festhielten, wenn die Polizei sie von den Gleisen wegzerren wollte, andere, die Schilder mit ihren Forderungen beschriftet hatten und sie in die Kameras hielten – ebenso wie die Kinder ihre Zeichnungen.
Diese Flüchtlinge wollten nicht länger im Abseits der Öffentlichkeit stehen und schweigsam Krieg und Marginalisierung erdulden. Nein, alle Welt sollte ihre Forderungen sehen, die Schrecken empfinden lernen, denen diese Menschen entkommen waren, und ihre Entschlossenheit spüren, sich auch nicht durch die eilig hochgezogenen Stacheldrahtzäune abweisen zu lassen – von einem Europa, das ihrem Leid schon lange den Rücken gekehrt hatte.
Wie sie ihre Demonstrationen durchführten: einer auf der Schulter des anderen, das Megaphon in der Hand, das rhythmische Klatschen im Takt, wie sie Arm in Arm eine rhythmische Welle machten, wie sie ihre Fahne – in diesem Fall die europäische – schwenkten. Das alles erinnerte stark an die ersten Bilder des Arabischen Frühlings und es wirkte ansteckend.
Überall in Deutschland und auch in anderen europäischen Ländern entstanden neue Netzwerke und alte Strukturen wurden zu neuem Leben erweckt, um spontan Hilfe zu leisten. Manche sehr radikal: Fluchthilfe im eigenen Auto oder durch die Unterzeichnung von zum Teil lebenslang geltenden Verpflichtungserklärungen, um Menschen in Not die Einreise zu erleichtern. Wir erlebten eine Zivilgesellschaft, die angesichts der humanitären Katastrophe zu zivilem Ungehorsam bereit war. Dies war ergreifend. Mit einem Mal war eine soziale Bewegung entstanden, die die deutsche Regierung zwang, die Aufnahme von Flüchtlingen in einem bis dato ungekannten Akt der Großmut zuzulassen.
Ich war damals gerade in Westafrika unterwegs und rieb mir ungläubig die Augen über die Bilder und die Geschichten, die mich aus Europa und speziell aus Deutschland erreichten. Die Festung Europa hatte einen entscheidenden Riss erhalten und es bestand kurzzeitig die Illusion, dies könne tatsächlich den Anfang des Zusammenbruchs der Festungsmauern bedeuten.
Doch bald schon sollten die deutschen Zustände wieder die altbekannten sein. Nach einer nur kurzen Schrecksekunde meldete sich die CSU in Gestalt ihres Parteivorsitzenden wieder zu Wort. Horst Seehofer, der Architekt des Asylbewerberleistungsgesetzes, der auch zwischenzeitlich betont hatte, dass er Sozialleistungen „bis zur letzten Patrone“ gegen Flüchtlinge verteidigen wolle, öffnete prompt die flüchtlingsfeindliche Büchse der Pandora.
Andere Parteigänger aus der Union gesellten sich zu ihm und im Schulterschluss mit dem braunen Mob, der in Dresden und anderen Städten wegen eines angeblich bald untergehenden Abendlandes die Straßen unsicher machte, leitete die CSU den Rollback der öffentlichen Meinung in Deutschland ein.
Damit ebnete sie den Weg für eine Reihe flüchtlingsrechtlicher Grausamkeiten auf die Eike später noch in seiner Rede eingehen wird.
Hier war er also wieder, der Versuch einer schmutzigen Allianz zwischen Konservativen und Rechtsradikalen, die wir bereits aus der Gründungszeit der MFH so gut kannten. Neu war, wie sehr sie auch die übrigen Parteien mit erfasste:
Von der Union über die Sozialdemokratie und die Liberalen bis hin zu einzelnen altbekannten hässlichen Stimmen aus der Linkspartei überboten sich – gerade im Vorfeld der Wahl – die Zurückweiser und Türsteher mit ihrer Forderung nach einer „Obergrenze“ für die Aufnahme von Flüchtlingen. Und mindestens ein prominenter Grüner hat sich ebenfalls dem Chor der Abschotter angeschlossen.
Sie ist wieder da, die alte „Das Boot ist voll“-Rethorik und manche würden dieses Boot am liebsten gleich im Mittelmeer absaufen sehen.
Genützt hat der rassistische Rollback aber nur den echten Nazis, denen er die Stimmen nur so in die Wahlurnen spülte. Deren Wählerschaft wiederum zündet im Namen ihres christlichen Abendlandes auch heute wieder Flüchtlingsheime an, selbst wenn es glücklicherweise dabei bisher im Unterschied zur Situation vor 20 Jahren noch keine Toten gegeben hat.
„Besorgte Bürger“ werden sie in Politik und Medien zärtlich genannt um zu verschleiern, dass wer fremdenfeindlichen, antisemitischen, autoritären und islamfeindlichen Aussagen zustimmt und rechtsradikal wählt auch rechtsradikal ist.
Das Konfliktforschungsinstitut der Universität Bielefeld hat bereits im Jahr 2002 davor gewarnt, dass etwa 20 Prozent der deutschen Bevölkerung „rechtspopulistisch eingestellt oder empfänglich für diese Ideologien“ seien. In den Wahlanalysen hingegen geht es pausenlos nur um die so genannten „Sorgen“ der AfD-Wähler.
Aber wer spricht eigentlich über die Sorgen und Ängste muslimischer, jüdischer oder homosexueller WählerInnen? Welche Talkshow diskutiert die rassistischen Drohungen und Schmähungen, die Menschen mit Migrationshintergrund tagtäglich nicht nur im Internet erleben müssen? Und vor welchem Gericht muss sich das Pack aus Clausnitz eigentlich verantworten?
Wir dürfen dies nicht länger hinnehmen. Aber wieviel Zeit eigentlich bleibt uns denn noch, damit wir wenigstens diesmal rechtzeitig dastehen mit unserem NEIN?
In einer Rede anlässlich des 25. Jahrestages der Bücherverbrennung, hat Erich Kästner uns deutlich mit auf den Weg gegeben, ab wann die Chance vertan ist, dem Faschismus noch erfolgreich entgegenzutreten:
„Die Ereignisse von 1933 bis 1945 hätten spätestens 1928 bekämpft werden müssen“, so Kästner. „Später war es zu spät. Man darf nicht warten, bis der Freiheitskampf Landesverrat genannt wird. Man darf nicht warten, bis aus dem Schneeball eine Lawine geworden ist. Man muss den rollenden Schneeball zertreten. Die Lawine hält keiner mehr auf”.
Noch ist die neue Nazipartei geächtet, noch werden die Konservativen nicht müde zu betonen sie wollten keinesfalls koalieren.
Wenn sie aber auf der Suche nach Rückholung ihrer Wählerstimmen die Drohung wahrmachen, ihre „rechte Flanke schließen“ und „national orientierten Menschen eine Heimat bieten“ zu wollen, dann werden die Unionsparteien nur noch weiter an die AfD heranrücken. Dann muss man nicht nur das Original, sondern auch das Plagiat fürchten.
Und dann geht es bald auch nicht mehr um das „ob“ sondern nur noch um das „wann“ einer Regierungskoalition.
Der Zeitpunkt, an dem man noch „wehret den Anfängen“ warnen konnte, ist längst überschritten. Im kommenden Jahrzehnt wird uns die Auseinandersetzung mit den blau gefärbten Braunen erheblich fordern. Wir können diese aber nur gewinnen wenn wir sie auch führen: offensiv und unnachgiebig!
Im Rahmen demokratischer Spielregeln einer freien Gesellschaft gibt es politische Gegner, deren Positionen man einfach nicht teilt. Mit denen kann und muss man genau deswegen in einen Meinungsstreit eintreten. Faschismus aber gehorcht keiner demokratischen Spielregel. Faschismus ist keine Meinung, Faschismus ist ein Verbrechen und muss ohne jedes „wenn“ und „aber“ bekämpft werden.
Die Adresse der Medizinischen Flüchtlingshilfe stand, wie wir 2011 erfahren haben, bereits auf der CD mit den Anschlagszielen des NSU, die in deren ausgebrannter Zwickauer Wohnung gefunden wurde.
Wenn wir uns also heute nicht bewegen, wird es eines Tages vielleicht zu spät sein. An diese deutschen Zustände dürfen wir uns nicht gewöhnen, es gilt sie zu verändern. Die Bochumer Menschenkette im vergangenen Jahr hat gezeigt, dass wir nicht alleine sind. Wir müssen dieses Potenzial nutzen, Meinungsverschiedenheiten unter uns zurückstellen und den Faschisten geschlossen entgegen treten.
Was bleibt also in derart düsteren Zeiten? Für Organisationen wie die medizinische Flüchtlingshilfe sind die Aufgaben in den letzten zwanzig Jahren nicht weniger geworden. Schon jetzt ist die Arbeit für die großartigen Kolleginnen und Kollegen unseres Teams oft kaum noch zu schaffen.
Und manchmal verschwimmt vor dem Hintergrund der vielen Notwendigkeiten der Blick auf das, was wir eben doch erreichen konnten: auf die vielen kleinen Löcher, die wir mit Beharrlichkeit in die europäischen Festungsmauern bohren konnten, auf die ehemals Verzweifelten, die heute wieder mit Zuversicht und Würde in die Zukunft schauen können und auf jeden einzelnen Menschen, für dessen Leben und Überleben es einen Unterschied machte, dass es die MFH gibt.
Dieses Erreichte wollen wir heute mit Euch feiern. Wenn eine Organisation wie die MFH zwanzig Jahre alt wird, dann ist das immer ein Erfolg vieler helfender Hände.
Wir wollen uns daher bedanken, bei jedem einzelnen Teammitglied, das in den zwei Dekaden Zeit, Energie und Gesundheit in die Arbeit bei der MFH investiert hat. Aber auch bei den vielen ehrenamtlichen MitstreiterInnen, die uns all die Jahre hindurch mit Rat und Tat zur Seite gestanden haben, bei denen, die ihr Geld oder auch ihre kostbare Lebenszeit in den Aufbau der MFH investiert haben, kurzum: bei Euch, die Ihr da wart, wenn wir Euch brauchten.
Und wir wollen Euch auch um etwas bitten: bleibt die, die Ihr seid!
Denn die Aufgaben und Anstrengungen, die noch auf uns warten, verlangen von uns, immer wieder von Neuem die Ärmel hochzukrempeln, den Gürtel enger zu schnallen, die Schuhe zu binden und auszurufen: her mit den nächsten Schwierigkeiten!

Vielen Dank.