Mittwoch 16.12.15, 08:43 Uhr
Aktivistinnen der Sozialpraxis und Apotheke Arta in Bochum

#stateofsolidarity


Die Bilder dieses Dezemberabends entbehren nicht einer gewissen Surrealität, neonrot leuchtet das Dia mit dem hashtag europäischer Initiativen #stateofsolidarity hinter der in Purpur getauchten Bühne auf.  Ein mondrundes Tambourin von 60 cm Durchmesser und gelblich weißer Bespannung scheint im Abendrot der Bühne, und wartet auf den Pulsschlag der Rembetikomusiker rund um Dimitris Pradekos. Während die nahezu 100 BesucherInnen den ersten instrumentellen Stücken zuhören, leuchtet im Hintergrund eine Bilderserie mit Ereignissen der deutschgriechischen Gegenwart des vergangenen Jahres auf: Bilder der Ankunft von Geflüchteten auf der Insel Lesvos, Bilder von der Ruine des Ende 2014 geschlossenen Bochumer Opelwerks, Bilder der Solidaritätskundgebung für Griechenland am 9. Mai vor dem Bochumer Schauspielhaus, ein riesenhaftes Megafon, ein Transparent der hellenischen Gemeinde mit den griechischen Arbeitslosenzahlen, Tsipras in der TV-Maske auf dem Titelbild der Times und schließlich Bilder der Sozialpraxis und Apotheke in Arta, von der an diesem Abend zwei Aktivistinnen in Bochum sind und berichten.


Maria Barka und Maria Balaska beschreiben auf Einladung der Gruppe Hellas-Solidarität Bochum die Situation in ihrer Heimatstadt, die zu den ärmsten Regionen Griechenlands und Europas gehört, ebenso eindringlich wie berührend: Sie berichten von über 35 Familien, die nicht über nur einen einzigen Euro Einkommen verfügen und sich keinerlei medizinische Versorgung leisten können. „Gesundheit ist ein Menschenrecht“, sagt die Vorsitzende des Vereins Maria Barka, und „das war der Grund, im letzten Jahr die Sozialpraxis und Apotheke in Arta zu gründen, eine von rund 50 solcher Gesundheitsinitiativen in ganz Griechenland”. Sie erzählt von Menschen, die aus dem umliegenden Tsoumerka-Gebirge kilometerweit zu Fuß in die Ebene herabsteigen, um in der Sozialpraxis Medikamente zu erhalten oder einen kostenlosen Arzttermin zu vereinbaren. „Doch all das hilft nichts, solange diese Menschen hungern“, schränkt Maria Balaska ein, und das betrifft immer mehr Menschen, die von der rigorosen Kürzungspolitik der Memoranden betroffen sind.
Die Rührung der beiden Aktivistinnen aus Arta über das große Interesse in Bochum an ihrer Initiative ist spürbar und überträgt sich schnell auf die nahezu 100 Zuhörer mit deutschem und griechischen Hintergrund im großen Saal der Gewerkschaft ver.di, von denen viele jetzt wissen wollen, wie sie der Initiative am Ionischen Meer von Deutschland aus helfen können. „Am besten geeignet sind Geldspenden, sodass wir die gewohnten Medikamente in Arta kaufen können, denn viele der oft nur wenig gebildeten Patienten vertrauen ungewohnt verpackten Medikamenten oder anderen Herstellern nicht“, sagt Maria Barka, die Vorsitzende des Vereins „Freunde der Sozialpraxis und Apotheke Arta“, einmal abgesehen davon, dass für chronische Krankheiten auch kontinuierliche Behandlungspläne wichtig sind, wie Dr. Klaus Piel anmerkt, der der Gruppe Hellas-Solidarität-Bochum das Konto der als gemeinnützig anerkannten Humanitären Cubahilfe Bochum e.V. für die Sammlung der Spenden zur Verfügung gestellt hat.
Denn, so erklärt Maria Barka: „Unter den seit Juli auferlegten Kapitalverkehrskontrollen ist es in Griechenland nicht erlaubt neue Konten zu eröffnen, es sei denn man beginnt ein Studium oder nimmt erstmalig eine Beschäftigung auf.“ Eine gute Idee sei es, neben den Geldspenden auch “Care-Pakete” mit Nahrungsmitteln nach Arta zu senden, beispielsweise Fleisch aus Konserven oder Teigwaren. Ansteckend, das zeigt sich an diesem Abend, das ist die deutschgriechische Solidarität in der Tat.

Doch in der Diskussion geht es nicht nur um karitative Hilfe, sondern auch um die politische und soziale Unterstützung der von der europäischen Kürzungspolitik unter den Memoranden betroffenen Menschen in Griechenland, die besonders der Rekapitalisierung der Banken dient. Und so wird diskutiert, ob die griechische Community in Deutschland mit einer Stimme auf die Politik der Berliner Koalition gegenüber Griechenland hätte reagieren müssen, um so klar zu machen, dass es sich bei den Milliarden um teuer verzinste Kredite der EU-Staaten und der übrigen Institutionen handelt, und nicht um Geschenke der deutschen Steuerzahler.
„Nein“, erwidert ganz entschieden eine Diskutantin mit griechischem Hintergrund, das sei keinesfalls Aufgabe der GriechInnen in Deutschland gewesen, sondern zuallererst „die Pflicht der Deutschen, diese Politik anzuprangern“, die sich im Frühjahr 2015 in einer mit nationalistischen Stereotypen aufgeladenen schrecklichen Hetzkampagne in tonangebenden deutschen und griechischen Medien fortsetzte. Doch schnell wird deutlich, dass es nichts bringt, sich im Nachhinein gegenseitig die Verantwortung zuzuschieben, sondern dass wir als EuropäerInnen dazu aufgerufen sind, die ursprünglichen europäischen Werte zu verteidigen.
Nach der Diskussion ist es Nacht geworden, die Musiker spielen tanzbare Rhythmen und im Bühnenbild ist nun das Abendrot dem Türkisblau des Flusses Arachthos gewichen, der Lebensader Artas. Über ihren Köpfen strahlt die berühmte Steinbrücke Artas, das Wahrzeichen der Stadt wie ein Symbol für den gesamten Abend: Eine Brücke zwischen Bochum und Arta, die den persönlichen Austausch ermöglicht und die Stereotypen zwischen den Europäern sprengt. Und damit beginnt der möglicherweise wichtigste Teil der Veranstaltung, die persönlichen Gespräche zwischen den Gästen und den BochumerInnen. Und vielleicht liegt es an der Mentalität der Menschen im Ruhrgebiet, das ebenso wie die Region Epiros im Nordwesten des Landes liegt, dass sie zwanglos miteinander ins Gespräch kommen, sich auch in den kleinen Gruppen schnell Übersetzerinnen finden und überall kleine Arta-Brücken entstehen. Und das könnte es sein, was #stateofsolidarity im Kern bedeutet, die Option für einen Standpunkt der Solidarität und nicht einer Kultur der Angst.
Das Programm des Bochum-Besuchs der Vertreterinnen des KIFA Artas umfasste neben der öffentlichen Informationsveranstaltung auch den Ideenaustausch mit der sozialen Nachbarschaftsinitiative Alsenwohnzimmer e.V., in der sich die beiden Initiativen darüber austauschten, wie in Bochum kollektive Strukturen der share-economy einen Gemeinschaftsgarten anlegen, pflegen und nutzen, Lebensmittel recyceln und umverteilen, oder die als „Nachbarschaftswohnzimmer“ eingerichtete Initiative verschiedenen Initiativen, wie z.B. einem Repair-Café zur Verfügung stellen. Außerdem besuchten die griechischen Gäste das vom Land NRW verwaltete Erstaufnahmelager für Flüchtlinge in Bochum-Langendreer im Beisein der Bezirksbürgermeisterin Andrea Busche, dem dort freiwillig tätigen Arzt und lokalen Flüchtlingsinitiativen.
Die Artaerinnen waren im Rahmen eines Gegenbesuchs zum vorausgegangenen Aufenthalt von Mitgliedern der Gruppe Hellas-Solidarität Bochum im Juli in Arta nach Bochum gereist. Die Reise wurde gefördert mit Mitteln der Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin.

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Dieser Beitrag wurde am 15. 12. 2015 auf der Webseite der Hellas-Solidarität-Bochum veröffentlicht.