Sonntag 26.10.08, 22:00 Uhr

Bochumer Recht für Nazidemonstrationen: Bei Volksverhetzung weitermachen


Während der Reden von NPD-Hetzern am Westfalenplatz im Ehrenfeld beschlagnahmte die Polizei ein im Demonstrationszug mitgeführtes Transparent mit der Aufschrift “Multikulti ist Völkermord“. Es liegt nahe, dass dies in Absprache mit der Bochumer Staatsanwaltschaft geschah, die drei Vertreter zur Beobachtung des Geschehens entsandt hatte. Das Transparent erfüllt den Tatbestand der Volksverhetzung. Gemäß § 130 Absatz 1 Nr.2 des Strafgesetzbuchs wird mit Freiheitsstrafe von 3 Monaten bis zu 5 Jahren bestraft, wer in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, die Menschenwürde anderer dadurch angreift, dass er Teile der Bevölkerung beschimpft, böswillig verächtlich macht oder verleumdet. Was sagt der Wortlaut des Transparents objektiv aus? Im Kontext einer Demonstration unter anderem gegen “Überfremdung“ steht das Wort “Multikulti“ zweifelsfrei als Kurzfloskel für “Multikulturelle Gesellschaft“. Die Aussage “Multikulturelle Gesellschaft ist Völkermord“ bedeutet danach: Ein Zusammenleben von Menschen verschiedener Kulturen in unserer Gesellschaft bringt das – rassistisch – als homogen definierte (deutsche) Ursprungsvolk um seine Existenz; diejenigen, die aus anderen Kulturen hinzugekommen sind, morden ein zuvor einheitlich vorhandenes Volk. Das Transparent greift nationalsozialistischen Rassenwahn und seine Ausgrenzung von nicht zum “Volk“ gehörenden Menschen auf, gegen die es allein wegen ihrer Existenz in unserer Gesellschaft den völlig überschießend diffamierenden Vorwurf eines der schwersten Verbrechen, des Völkermordes, erhebt.
Damit wird ein abgrenzbarer Teil der Bevölkerung im Sinne des Volksverhetzungsparagraphen böswillig verächtlich gemacht. Dies geschieht, indem zugleich die Menschenwürde der aus anderen Kulturen Hinzugekommenen angegriffen wird. Das setzt nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung voraus, dass diese im Kern ihrer Persönlichkeit getroffen, das heißt, dass ihnen das Lebensrecht in der Gemeinschaft bestritten oder sie als unterwertig behandelt werden sollen. Die Aussage, als Angehöriger einer anderen Kultur durch das bloße Zusammenleben an einem als homogen vorausgesetzten Ursprungsvolk Völkermord zu begehen, erfüllt sämtliche Hilfsgesichtpunkte, welche die Rechtsprechung für das Tatbestandsmerkmal „Angriff auf die Menschenwürde anderer“ entwickelt hat. Sie bestreitet das gleiche Menschsein anderer und rückt diese mit dem Vorwurf des Völkermordes in die Nähe von Unpersonen. Wenn in der Rechtsprechung etwa die Schmähung von Asylbewerbern als “Sozialschmarotzer“ als Volksverhetzung bestraft worden ist, so geht der Inhalt des bei der Bochumer Nazi-Demonstration mitgeführten Transparents darüber noch erheblich hinaus. Dieser Angriff auf die Menschenwürde anderer ist zudem überaus geeignet, den öffentlichen Frieden zu stören, ein Tatbestandsmerkmal, das bereits dann erfüllt ist, wenn ein aufnahmebereites Publikum Gleichgesinnter aufgehetzt wird. Die Bochumer Staatsanwaltschaft, jedenfalls die drei vor Ort anwesenden Staatsanwälte scheinen diese rechtliche Bewertung zu teilen. Davon wird man ausgehen dürfen, wenn die Beschlagnahme des Transparents durch die Polizei in ihrer Anwesenheit geschah. So weit so gut.
Die Einsatzleitung der Polizei – und der Polizeipräsident – müssen sich nun wieder einmal fragen lassen, warum sie einen hetzerischen Aufzug überhaupt haben losgehen lassen, der mit einem großen volksverhetzenden Transparent die Grenze zur Strafbarkeit überschritt. Nach dem Versammlungsgesetz kann die Polizei eine Versammlung auflösen, wenn nach den erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit unmittelbar gefährdet ist. Polizeipräsident Wenner hält sich, wie er auf der Pressekonferenz der Polizei vor der Demonstration erneut bekräftigt hat, durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht für verpflichtet, die Versammlungsfreiheit von Nazis zu schützen. Aber auch das Bundesverfassungsgericht hält selbstverständlich die öffentliche Sicherheit jedenfalls dann für gefährdet, wenn Demonstrierende mit einem für den Demonstrationszug markanten Transparent Volksverhetzung und damit eine erhebliche Straftat begehen. Die Polizei kann die Versammlung dann auflösen und sie musste es tun, weil sie dies mit ihren überwältigenden Einsatzkräften unschwer hätte bewerkstelligen können.
Die Unentschlossenheit der Polizei hat in Bochum Tradition. Schon vor gut vier Jahren durften die NPD-Hetzer unter Führung des inzwischen zum Landesvorsitzenden aufgestiegenen Claus Cremer ihre widerliche Demonstration gegen den Bau der Bochumer Synagoge fortsetzen, nachdem dieser und sein ebenso krimineller Spießgeselle Axel Reitz zwei massiv volksverhetzende Reden von sich gegeben hatten. Auch damals erkannten die Verantwortlichen der Staatsgewalt die Strafbarkeit dieses absoluten Tiefpunkts eines nazistischen Hetzzuges: ein Staatsanwalt bemühte sich, Redemanuskripte zu beschlagnahmen. Das Bochumer Landgericht verurteilte Cremer und Reitz später zu Freiheitsstrafen, nur ersteren auf Bewährung; seine Bewährungszeit ist erst seit kurzem – offenbar erfolglos – abgelaufen.
Die Frage an Polizeipräsident Wenner aus dem Jahr 2004 stellt sich 2008 erneut: Wenn er sich in rechtsstaatlichem Gehorsam durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gezwungen sieht, schändlichste Nazidemonstrationen durchgehen zu lassen, warum dann selbst um den Preis vollendeter Straftaten? Warum gehört es in Bochum nicht zum – vorbereiteten – Einsatzkonzept der Polizei, einen Nazi-Hetzzug aufzulösen, wenn er die Grenze zu massiver strafbarer Volksverhetzung überschreitet?