Prof. Dr. Ernst-Ulrich Huster
Kinderarmut –
auch in unserer Stadt
Impulsreferat aus Anlass der
Diskussion des DPWV über Kinderarmut zum „Blauen Heinrich“ am 12. Februar 2007 um 18.30 h im Museum Bochum.
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
die - einige Jahre zurückliegenden - politischen Auseinandersetzungen um den damaligen 10. Jugendbericht(1) hatten erneut das
Unvermögen in unserer Gesellschaft beim Umgang mit sozialen Problemlagen gezeigt. Doch sind die statistischen
Daten nunmehr auch in der öffentlichen Diskussion – etwa auch im zweiten Armuts- und Reichtumsbericht der
Bundesregierung(2)
- angekommen: Die Sozialhilfequote, also der Anteil der Sozialhilfeempfänger an der Gesamtbevölkerung
liegt bei der Gruppe der bis 7–jährigen fast dreimal so hoch wie die aller Sozialhilfebezieher, bei Kindern
und Jugendlichen unter 18 Jahren fast doppelt so hoch wie beim Durchschnitt aller. Bezogen auf Haushaltstypen ist
das Armutsrisiko von Ehepaaren ohne Kinder niedrig, auch bei Ehepaaren mit Kindern nur unterdurchschnittlich. Die
höchste Abhängigkeit von der Sozialhilfe ist bei den alleinerziehenden Frauen anzutreffen: Mehr als jeder
4. Haushalt ist hier auf Hilfen des Sozialamtes angewiesen ; bei weiblichen Alleinerziehenden mit 3 und mehr Kindern
waren es knapp die Hälfte aller Haushalte.(3)
Nachdem die Sozialhilfestatistik seit 1994 auf die Jahresendzahlen umgestellt wurde, ist eine differenzierte Langfristbeobachtung
auf diesen Zeitraum begrenzt. Doch auch dieser erneute Versuch der Politik, durch Veränderung der statistischen
Erhebungsmethoden ‘kleinere’ Zahlen zu präsentieren, nützt wenig: Von 1994 bis 2004 ist - entsprechend
dieser jeweiligen Jahresendzahlen - die Anzahl der Empfängerinnen und Empfänger von Hilfe zum Lebensunterhalt
im Rahmen des BSHG insgesamt um 29,7 Prozent gestiegen, bei den deutschen Empfängern war ein Plus von 26,2
Prozent und bei den ausländischen von 44,2 Prozent zu verzeichnen. Stärker als der Anstieg bei allen
Hilfeempfängern war der Zuwachs bei den 18 - 21-jährigen (+ 74,0 Prozent) und bei den 21 - 25-jährigen
(+49,6 Prozent). Bei den 18 - 21-jährigen war der Anstieg bei den deutschen Hilfeempfängern sogar größer
als bei den ausländischen. Insgesamt bezogen 2004 744.389 Kinder unter 11 Jahren und 376.565 Kinder bzw. Jugendliche
zwischen 11 und 18 Jahren, damit insgesamt mehr als 1,12 Mio. Kinder und Jugendliche bis 18 Jahren Hilfen zum Lebensunterhalt.
Die Neuregelungen seit 2005 für den Bereich der Langfristarbeitslosen, die Einführung des Arbeitslosengeldes
II einschließlich Sozialgeld haben dazu geführt, dass die Sozialstatistik ehrlicher geworden ist. Wenn
Berechnungen des Paritätischen einen Anstieg der Anzahl der von Armut betroffenen Kinder und Jugendlichen
um ca. 500.000 auf über 1,5 Mio. ergeben, so sind damit Teile der Dunkelziffer in der Armutsstatistik angekommen,
wenngleich immer noch ein Feld verschämter Armut bleibt. Hinzu kommen gesetzliche Regelungen, etwa die Absenkung
des Arbeitslosengeldes II auf Sozialhilfeniveau, die diesen Anstieg bewirkt haben und bewirken.
Zahlen von UNICEF und EUROSTAT zeigen, dass Deutschland – wie fast immer – sozialstatistisches Mittelmaß
ist, dieses meint: Deutschland liegt mit einer Armutsquote bei Kindern mit 10 Prozent im Mittelfeld der entwickelten
Staaten, während beispielsweise die skandinavischen Staaten Quoten deutlich unter 5 Prozent ausweisen, Staaten
wie die USA, Irland und Großbritannien hingegen deutlich höher liegen, die USA mit einem Spitzenwert
von 22 Prozent.(4)
Immerhin hat es in Großbritannien in den vergangenen Jahren große Anstrengungen gegeben, die Kinderarmut
erfolgreich zu verringern.
Lebenslage - Lebensperspektive von Kindern
Armut bedeutet nicht nur das Fehlen monetärer Ressourcen, wenngleich dieses eng damit korreliert. Nimmt man
weitere Indikatoren für Armut und soziale Ausgrenzung aus den Bereichen Schule, Bildung, Freizeit, soziale
Kontakte, Wohnen und Gesundheit hinzu, so zeigt sich in Deutschland insgesamt ein großes Armutsrisiko gerade
bei Kindern und Jugendlichen, deren individuelle und soziale Langfristwirkung der Forschung erst in Anfängen
und der Politik bislang überhaupt noch nicht in den Blick geraten ist. Der von der Europäischen Union
in ihren sozialpolitischen Initiativen und den von ihr installierten Observatorien propagierte Begriff von der
„Multidimensionalität von Armut“(5) macht deutlich, dass Armut nicht nur verschiedene Ursachenzusammenhänge und Auswirkungen
hat, sondern auch komplexe Interventionsmuster erheischt. Sozial- und Armutsberichte wie etwa die von Hannover
und Essen zeigen sozialstrukturell und sozialräumlich, wie Unterversorgungstatbestände bei diesen Dimensionen
der Lebenslage gerade bei bestimmten Familientypen kumulieren. Doch auch bei diesen Studien bestimmt der
Haushaltskontext weitestgehend noch die Zuordnung der Kinder zu „arm“ und „nichtarm“.
- Kinder, das wissen wir inzwischen aus zahlreichen empirischen Erhebungen,
leiden unter Arbeitslosigkeit und unter Verarmung in gleicher Weise wie die davon betroffenen Eltern selbst. Folglich
treffen Kürzungen bei den Lohnersatzleistungen im Falle von Arbeitslosigkeit und Verschärfungen bei Maßnahmen
der beruflichen Integration gerade auch die Kinder! Konzentrationsschwäche, Depressionen, Schulversagen, Auffälligkeiten
im Sozialverhalten u.v.a.m. beeinträchtigen den weiteren Entwicklungsprozess dieser Kinder in einem
so starken Maße, dass sich die Armut im weiteren Leben oftmals fortsetzt(6).
- Dort, wo das Leben von der Hand in den Mund zur Norm wird, fällt perspektivisches Denken fort, handele es
sich um die gesundheitliche Vorsorge bei den Kindern und bei den Erwachsenen selbst, um die schulische Ausbildung
oder um berufliche Qualifikation. Umgekehrt sind die Einrichtungen des Gesundheitswesens, der Schule und
in weiten Bereichen der beruflichen Ausbildung letztlich mittelschichtenorientiert und nicht auf die emotionalen
und kulturellen Standards von Personen eingestellt, die dieser Mittelschichtorientierung nicht entsprechen.
Einschnitte bei gesundheitlichen Leistungen und schulergänzenden Hilfen treffen deshalb insbesondere diese
Kinder!(7)
- Weitere gesundheitliche Risiken kommen hinzu: Bewegungsarmut, Adipositas, insgesamt ein deutlich geringeres positives
Verhältnis zum eigenen Körper, verstärkte psychische Auffälligkeiten insbesondere bei Mädchen,
Suchtverhalten und eine stärker konsumptive Freizeitgestaltung finden sich in toto stärker bei Kindern
aus sozialbenachteiligten Schichten und solchen mit Migrationshintergrund.
- Aus dem Zusammentreffen des tiefgreifenden wirtschaftlichen Strukturwandels, dem Fortfall bestimmter Typen weniger
qualifizierter Arbeitsplätze und der Tatsache, dass beispielsweise von zahlreichen Geburtsjahrgängen
viele junge Menschen ohne jeglichen beruflichen Ausbildungsabschluss geblieben sind, ist ein neues, starkes Armutspotential
in unserer Gesellschaft entstanden(8). Junge von Arbeitslosigkeit betroffene Menschen erfahren nicht die positive soziale Platzierungs-
und Sozialisationsfunktion von Erwerbsarbeit, sondern werden auf subsidiäre Hilfeleistungen verwiesen. Angesichts
hoher Massenarbeitslosigkeit werden ganz offensichtlich Personen in das Arbeitslosengeld II und vermutlich bald
auch wieder in die Sozialhilfe abgedrängt, die keine Chance haben, unter den gegebenen Bedingungen eine berufliche
Ausbildung und im Anschluss daran einen Arbeitsplatz zu finden. Wenn selbst hochqualifiziert Ausgebildete den Übergang
von der Berufsausbildung zur Beschäftigung oft nur schwer schaffen, bleiben schlecht oder gar nicht Ausgebildeten
im Regelfall nur gelegentliche Jobs, Aushilfstätigkeiten und leider auch Tätigkeiten am Rande oder gar
in der Illegalität. Aktuelle Daten des Statistischen Bundesamten zeigen, dass 43 Prozent der unter 25-Jährigen
Arbeitslosengeld II – Empfängerinnen und Empfänger lediglich über einen Sonder- oder Hauptschulabschluss
und 73 Prozent über keine Berufsausbildung verfügten.
- Belastbare Schätzungen belegen, dass sich ca. 10 Prozent der Kinder und Jugendlichen sich ganz oder teilweise
der Schulpflicht entziehen. Dabei zeichnet sich insbesondere in den Großstädten ein weiteres Phänomen
ab, das der Straßenkinder. Kinder ohne feste Bleibe und haushaltsmäßige Bezugspunkte, die sich
sozialen Zwängen einschließlich der Schulpflicht etc. entziehen. Junge Menschen koppeln sich - nicht
nur hier - von den Normen dieser Gesellschaft weitestgehend ab, Recht ist dann, was ihr schlichtes Überleben
ermöglicht.(9)
Damit aber kommt nur in besonders krasser Weise zum Ausdruck, was allen genannten sozialen Ausgrenzungsprozessen
letztlich gemein ist: Die Gesellschaft verspricht bei normenkonformem Verhalten positive soziale Gratifikationen
und Partizipation am gesellschaftlichen Wohlstand. De facto aber ist das Scheitern einer zunehmenden Anzahl gerade
junger Menschen vorprogrammiert: Trotz normenkonformen Verhaltens bzw. trotz des Versuchs, sich normenkonform zu
verhalten, kommt es immer wieder zu negativen Sanktionen, zumindest aber zur Verweigerung positiver Gratifikationen.
Meine Beobachtung ist: Während die funktionale Zielsetzung dieser sozialen Ausgrenzungsprozesse, „Versagen“
in der Schule, im Ausbildungsbereich und auf dem Arbeitsmarkt als „Schuld“ bei den Betroffenen zu internalisieren,
in den 1980er Jahren noch erreicht werden konnte, wächst seitdem in der heutigen Kinder- und Jugendgeneration
– erst recht bei bestimmten Migrantengruppen - ein Potential heran, das sich diesem Selbststigmatisierungsprozess
nicht mehr zu unterwerfen bereit ist: Ausstieg, Untertauchen, Bildung von Gegenkulturen etc. und damit auch kriminelles
Verhalten sind häufig die Folge.
Politische bewirkte Selektion
Dass diese Selektion Methode hat, möchte ich an einem aktuellen Beispiel belegen: Das SGB II legt das Sozialgeld
für Kinder bis zum vollendeten 14. Lebensjahr auf 60 Prozent und für Jugendliche ab dem 15. Lebensjahr
auf 80 Prozent des Eckregelsatzes in Höhe von 345 Euro fest. Dieses bedeutet für Kinder unter 15 Jahren
einen Geldbetrag in Höhe von 209 €, damit einen täglichen Geldbetrag in Höhe von 2,38 € für
Ernährung und Getränke. Dies bedeutet je nach Gewichtung der einzelnen Mahlzeiten für ein Mittagessen
zwischen 1,31 und 1,05 €. Die realen Beiträge nun für ein Mittagessen in einer Ganztageseinrichtung,
also etwa einer Kindertagesstätte oder in einem Kinderhort, liegen zwischen 1,80 und 3,20 €. Im SGB II ist
die Teilnahme an einem zubereiteten Mittagessen offensichtlich nicht vorgesehen! Wenn der Besuch einer vorschulischen
Tagesstätte für Kinder schon an den Essenskosten scheitert, um wie viel mehr sind diese Kinder in anderen
Bereichen kindlichen Lebens abgehängt: bei Kontakten zu Freunden, Mitgliedschaften in Vereinen, Arbeitsmaterialien
im Kindergarten und in der Schule etc.. Wohlhabendere Haushalte hingegen können Nachhilfestunden, Aufenthalte
im Ausland, Freizeitaktivitäten finanzieren. Kinder von Hartz IV haben oftmals Schwierigkeiten, am Ausflug
im Kindergarten oder der Schule teilzunehmen. Jede Kommune kann das selbst entscheiden! Und es fehlt nicht nur
an Geld, sondern vor allem an Hilfen nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz. Erst in letzter Zeit ist die Bedeutung
von Ganztageseinrichtungen gerade für Kinder aus sozial benachteiligten Schichten zum politischen Thema geworden.
Schulreformen in den letzten Jahrzehnten waren hier zu zaghaft. Viele derjenigen, die in der Vergangenheit Hilfen
gebraucht hätten, gehören nun zum „Präkariat“. Nachträglich kann man das kaum kompensieren.
Immerhin hat man in den 1970er Jahren noch von kompensatorischer Erziehung gesprochen und aus diesem Grunde Gesamtschulen
eingerichtet. Aber diese Schulen wurden von deren Initiatoren bald dermaßen schlecht finanziell und personell
ausgestattet, so dass dieser Reformansatz in vielen Fällen schlicht gescheitert ist, selbst wenn engagierte
Pädagogen und Eltern dem Gesamttrend entgegensteuern wollten und haben.
Arme Kinder benötigen mehr und nicht weniger Geld als die Erwachsenen, vor allem aber benötigen sie soziale
Unterstützung in der Familie und außerhalb der Familie. Und dieses kostet nun mal Geld. Und dieses Geld
ist in unserer reichen Gesellschaft auch durchaus da. Internationale Vergleichszahlen etwa von UNICEF belegen,
dass unser System des Familienlastenausgleichs keineswegs besonders wirksam ist. Während es beispielsweise
den skandinavischen Ländern gelingt, ihre zwischen 18 – 12 Prozent liegenden Armutsraten bei Kindern durch
Steuern und Transfers auf 2 – 4 Prozent zu senken, schafft es Deutschland nur, die ebenfalls bei 18 Prozent liegende
ursprüngliche Armutsrate auf lediglich 10 Prozent zu verringern! Es liegt in Deutschland– im Vergleich etwa
zu Schweden und Finnland – also nicht an der primären, sondern an der sekundären Verteilung, wenn Kinderarmut
derartig verbreitet ist.(10)
Immer wieder heißt es, das rohstoffarme Deutschland müsse seine einzige natürliche Ressource pflegen,
nämlich die nachwachsende Generation. Zugleich werden alle öffentlichen Finanzierungsprobleme auf den
Rückgang der Kinder und daran gekoppelte demografische Verschiebungen zurückgeführt. Tatsächlich
haben wir derzeit – noch – kein demografisches Problem, sondern es fehlen 7 – 8 Millionen Arbeitsplätze. Die
Folgen davon werden in hohem Maße den Sozialversicherungen aufgebürdet, hier kommt es dann zu Finanzierungsproblemen.
Dabei steigt unser Bruttoinlandsprodukt bei gleichzeitig abnehmender Bevölkerung. Pro Kopf und Nase steht
also in den nächsten Jahren mehr zur Verteilung zur Verfügung und nicht weniger. Es liegt also nicht
an der Demografie, sondern an der Verteilung, wenn es in den öffentlichen Haushalten zu Finanzierungsengpässen
kommt.
Welche Kinder und Jugendliche aber meinen wir?
In den letzten Monaten hat sich bei mir mehr und mehr die Frage zugespitzt, angestoßen etwa durch den Kriminologen
Christian Pfeiffer(11)
und aufgenommen in der AWO/ISS-Studie: Über welche Kinder und Jugendlichen reden wir überhaupt? Sind
wirklich „die“ Kinder bzw. Jugendliche diejenigen, um die man sich Sorge machen muss? Kinder als Humanressource
unserer Gesellschaft – wirklich? Ingrid Langer-El Sayed zeigte als Ziel konservativer Familienpolitik in den 1950er
Jahre u.a. die Förderung der „kulturtragenden Mittelstandsschichten“ auf, womit der erste Familienminister
Wuermeling die Einführung der höhere Einkommen begünstigenden Steuerfreibeträge rechtfertigte(12). Familienpolitik
zielte also bewusst auf eine Verstärkung schon vorhandener sozialer Ungleichheit, auf eine stärkere Förderung
der Mittel- einschließlich der bildungsbürgerlichen Schichten. Als vor einigen Jahren die Fachhochschulen
in der Bundesrepublik Deutschland ihr 25-jähriges Jubiläum begingen, beantwortete auf einer der vielen
Feierlichkeiten der Chef eines lokalen Großwerkes eines international agierenden Konzerns in Bochum die Frage,
was die Wirtschaft von den Absolventinnen und Absolventen der Fachhochschulen erwarteten, kurz und knapp: Mobilität
- inhaltlich und räumlich. Hier entsteht ein dem wie auch immer noch rudimentär vorhandenen Haushaltsdenken
(Ich wage schon nicht mehr von Familie zu sprechen!) entgegen gesetztes Verständnis von menschlichen Gesellungsformen,
dem Kinder schlicht fremd und äußerlich sind. Vorhandene zu klonen und dann nicht etwa frei nach Platon
den Philosophen, sondern irgendwelchen Sozialtechnokraten zur Konditionierung zu überlassen, war in meiner
Schülerzeit noch negative Utopie eines George Orwell, scheint heute aber keineswegs mehr gänzlich abwegig
zu sein. Es werden nur noch solche Kinder und Jugendliche gebraucht, die diesem Flexibilitätserfordernis genügen,
und auch dies lebensbiographisch nur so lange, wie sie diesem Erfordernis entsprechen. Und hier fängt – so
AWO/ISS, PISA(13)
– die Auslese sehr frühzeitig und lebensbiographisch betrachtet immer härter an. Auch bei den – unter
demographischen Gesichtspunkten durchaus erwünschten – Migrantinnen und Migranten geht es nicht besser. Pfeiffer
zeigt indirekte Zusammenhänge zwischen Armut und frühzeitiger Kriminalität etwa bei jugendlichen
Russlanddeutschen auf. Nicht wenige Maßnahmen der aktuellen Kinder- und Jugendlichenpolitik, vor allem der
Schulpolitik forcieren diesen Selektionsvorgang in mitunter nur noch als zynisch zu bezeichnender Weise und setzen
an die Stelle der konservativen Verklärung der Mittelschichtenkultur der 1950er Jahre das Idealbild des instrumentell-leistungsstarken
und von privaten Verantwortlichkeiten unabhängigen Individuums, dass sich immer weiter flexibilisieren lässt
– lebenslang. Wer diesem Idealbild nicht zu entsprechen scheint, nicht oder nicht mehr entspricht, wer die notwendige,
in immer kürzeren Phasen erforderliche Anpassungsleistung nicht oder nicht mehr erbringen kann, wird sozial
ausgegrenzt und sozialpolitisch sanktioniert. Die oben angeführten aktuellen Daten des Statistischen Bundesamtes
zum Schul- bzw. Berufsausbildungsabschluss bei den Unter-Fünfundzwanzigjährigen im ALG II Bezug belegen
diesen Selektionsprozess in unüberbietbarer Klarheit! Trotz schlechter Noten seitens der OECD-PISA-Studie
für das deutsche Schulsystem redet die Politik vor allem über eines, nämlich über Eliteförderung,
nicht aber darum, wie man soziale Integrationsprozesse für Kinder und Jugendliche besser gestalten könnte,
was richtig verstanden und gemacht ja kein Gegensatz zu Förderung auch und gerade der Spitzen sein muss und
letztlich ist.
Aus diesem Kontext von Flexibilitätserfordernissen der derzeitigen Wirtschaft und Selektionsfiltern auch und
gerade für Kinder und Jugendliche folgt: Wir benötigen gründliche theoretische, empirische, vor
allem aber – verzeihen Sie mir als altem 68er diesen unerlässlichen Hinweis – ideologiekritische wissenschaftliche
Studien zum Zusammenhang von Europäisierung, Globalisierung und sozialer Ausgrenzung gerade auch bei Kindern
und Jugendlichen, und damit eine Bearbeitung der umfassenden Kontextualität von Kinderarmut und allgemeinen
weltwirtschaftlichen Entwicklungen. Mit der engen Verzahnung der Volkswirtschaften im Rahmen von WTO bzw. innerhalb
der Triade aus Westeuropa, Nordamerika und Südostasien verfestigt sich auch ein Sozialraum, in dem auf lokaler
Ebene in Erscheinung tretende soziale Problemlagen letztlich global induziert sind und umgekehrt(14). Diese, charakterisiert durch Schlagworte
wie Deregulierung, Flexibilisierung und Umbau der Sozial- zu Wettbewerbsstaaten(15), gehen über individuelle Brüche
in Lebensbiographien weit hinaus: Denn die wirtschaftlichen, sozialen und sozio-kulturellen Umbrüche in unserer
Gesellschaft schlagen sich zwar einerseits in unterschiedlichen Formen von Individualisierung und Pluralisierung
von Lebensstilen nieder, sie eröffnen z.T. mehr Chancen und Perspektiven gerade für Kinder und Jugendliche,
der Einzelne ist aus traditionellen Zusammenhängen gelöst. Ihre Gestaltungs- und Wahlmöglichkeiten
vergrößern sich(16).
Gleichzeitig aber lassen diese Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft die Risiken unserer Gesellschaft
sehr viel direkter auch auf Kinder und Jugendliche durchschlagen. Die Autoren der Shell-Studie von 1997 formulierten
bündig: „Die Krisen im Erwerbsarbeitssektor, Arbeitslosigkeit, Globalisierung, Rationalisierung und Abbau
oder Verlagerung von Beschäftigung sind inzwischen nicht mehr ‘bloß’ eine Randbedingung des Aufwachsens.
Sie sind nicht mehr ‘bloß’ Belastungen des Erwachsenenlebens, von denen Jugendliche in einem Schonraum entlastet
ihr Jugendleben führen können. Sie haben inzwischen vielmehr das Zentrum der Jugendphase erreicht, indem
sie ihren Sinn in Frage stellen. Wenn die Arbeitsgesellschaft zum Problem wird, dann muss auch die Jugendphase
als Phase der biographischen Vorbereitung auf diese Gesellschaft zum Problem werden.“(17)
Es geht um Analysen dieser Interdependenzen. In jedem Falle sind mit Europäisierung und Globalisierung soziale
Ausgrenzungsprozesse lokal, regional, national und übernational verbunden, die dann zu einer Gefährdung
unseres demokratischen Gemeinwesens werden können, wenn diesen nicht mit einer rationalen und sozialpolitisch
ausgewogenen Politik begegnet wird, die den Sozialstaat festigt, der in der deutschen Geschichte zum ersten Mal
unsere Demokratie bislang gesichert hat.
1 Zehnter Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation von Kindern und die
Leistungen der Kinderhilfen in Deutschland. Stellungnahme der Bundesregierung zum Bericht der Sachverständigenkommission.
Bericht der Sachverständigenkommission. Hg. vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.
Bonn 1998
2 Bundesregierung. Lebenslagen in Deutschland. Zweiter Armuts- und Reichtumsbericht. Deutscher
Bundestag, Drucksache 15/5015, Berlin 2005
3 Statistisches Bundesamt. Sozialleistungen. Fachserie 13, Reihe 2.1: Sozialhilfe - Hilfen zum
Lebensunterhalt 2004
4 Fertig, Michael und Tamm, Marcus: Kinderarmut in reichen Ländern, in: Aus Politik und Zeitgeschichte,
Heft 26/2006 vom 26. Juni 2006, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, Seite 18 ff.
5 Vgl. Huster, Ernst-Ulrich: Armut in Europa. Opladen 1996
6 Zenke, K.G., Ludwig, G.: Kinder arbeitsloser Eltern. Erfahrungen, Einsichten und Zwischenergebnisse
aus einem laufenden Projekt. In: Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Heft 2/1985, Seite 265
ff.
7 Hess, Doris, Hartenstein, Wolfgang, Smid, Menno: Auswirkungen von Arbeitslosigkeit auf die Familie.
In: Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Heft 1/1991, Seite 178 ff.; Mielck, Andreas (Hg.):
Krankheit und soziale Ungleichheit. Sozialepidemiologische Forschungen in Deutschland, Opladen 1993
8 Berufsbildungsbericht 2002. Unterrichtung durch die Bundesregierung. Deutscher Bundestag, 14.
Wahlperiode. Drucksache 14/8950 vom 26.04.2002
9 Vgl. hierzu Hinweise etwa des Senats von Berlin sowie Berichte in verschiednen Tageszeitungen.
Butterwegge, Christoph u.a.: Armut und Kindheit. Ein regionaler, nationaler und internationaler Vergleich. Opladen
2003, S. 127 ff.
10 Fertig, Michael und Tamm, Marcus: Kinderarmut in reichen Ländern, in: Aus Politik und
Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, Nr. 26/2006, Seite 21
11 Pfeiffer, Christian, Ohlemacher, Thomas: Anstieg der (Gewalt-) Kriminalität und der Armut
junger Menschen,. In: Lamnek, Siegfried (Hg.): Jugend und Gewalt. Devianz und Kriminalität in Ost und West,
Opladen 1995
12 Langer – El Sayed, Ingrid: Familienpolitik. Tendenzen, Chancen, Notwendigkeiten. Frankfurt
am Main 1980
13 OECD PISA, Programme for International Student Assessment: Schülerleistungen im internationalen
Vergleich. Im Auftrag der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland und in Zusammenarbeit
mit dem Bundesministerium für Bildung und Forschung. Internet: www.mpig-berlin.mpg.de/pisa
14 Benz, Benjamin, Boeckh, Jürgen, Huster, Ernst-Ulrich: Sozialraum Europa. Ökonomische
und politische Transformation in Ost und West. Opladen 2000
15 Butterwegge, Christoph u.a.: Armut und Kindheit. a.a.O.; Butterwegge, Christoph (Hg.): Kinderarmut
in Deutschland. Ursachen, Erscheinungsformen und Gegenmaßnahmen. Frankfurt/New York 2 2000
16 Ferchhoff, Wilfried: Pluralisierte Lebensstile von Jugendlichen zwischen Armut und Reichtum,
in: Huster, Ernst – Ulrich (Hg.): Reichtum in Deutschland. 2. erweiterte und aktualisierte Auflage. Frankfurt/M,
New York 1997
17 Jugendwerk der Deutschen Shell: Jugend 1997. Zukunftsperspektiven. Gesellschaftliches Engagement.
Politische Orientierungen. Opladen 1997
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