Ein Methusalem-Komplott gegen die Zukunft des Theaters! Frank Castorf muß Leiter der Ruhrfestspiele bleiben! Offener Brief des Theaterwissenschaftlichen Instituts der Ruhr-Universität Bochum an den DGB, die Stadt Recklinghausen und den Kulturminister des Landes Nordrhein-Westfalen Wie wir der heutigen Tagespresse entnehmen, beabsichtigen der DGB und die Stadt Recklinghausen als Träger der Ruhrfestspiele deren Leiter Frank Castorf vorzeitig zu entlassen. Die Rede ist von einem Plan, Castorfs Vertrag "gegen Bezahlung" (FAZ) aufzulösen und die Ruhrfestspiele einem neuen Leiter zu übergeben. Gegen diese Pläne und die Intrigen, die zu ihrer Durchsetzung gegen die öffentlich bekundete Solidaritätserklärung des Intendanten Gerard Mortier unternommen wurden, möchten wir nachdrücklich protestieren! Wir fassen sie als ein Methusalem-Komplott gegen die Zukunft des Theaters auf. Frank Castorfs hat in seiner ersten Spielzeit unter Bedingungen, die schwierig waren und für die nicht zuletzt der DGB und die Stadt Recklinghausen die Verantwortung tragen, ein künstlerisch wie politisch hervorragendes Programm gestaltet. Seine Konzeption der Ruhrfestspiele hat dem Festival zurecht bundesweit und über die deutschen Grenzen hinaus große Beachtung und Bewunderung eingetragen: Mit seinen Inszenierungen, den eingeladenen Künstlern und seinen neuen Ideen für Verpflegung und Beherbergung der Gäste hat er die an chronischer Überalterung leidenden Festspiele für ein neues Publikum geöffnet. Erinnert sei in diesem Zusammenhang daran, daß Castorf der einzige deutsche Intendant ist, dem es in den letzten Jahren gelungen ist, ein wirklich neues, junges Publikum über Jahre hinweg an sein Theater, die zuvor als unbespielbar geltende Berliner "Volksbühne", zu binden. Diese Arbeit brauchte dort und braucht nun auch hier Zeit und Geduld. Ihr Erfolg läßt sich, zumal in der ersten Spielzeit, nicht an den Zuschauerzahlen messen. Kulturpolitik muß sich auf andere Argumente als diejenige der Kassen stützen, sonst macht sie sich selbst obsolet. Wir sind überzeugt, daß es Castorf gelingen wird, auch im Ruhrgebiet das junge Publikum für sein Theater zu gewinnen, und dadurch dem Theater eine Zukunft. (Wir fügen hinzu, daß Jugend natürlich keine Frage des biologischen Alters ist...) Umgekehrt dürften die Festspiele, die Kulturpolitik der Stadt Recklinghausen und des DGB und letztlich die Kulturlandschaft Ruhrgebiet einen nicht wieder gutzumachenden Image-Schaden erleiden, falls es zu Castorfs Entlassung kommen sollte. Ein Theaterfestival, das einen Künstler vom Rang Castorfs entläßt, meldet die Region, in der das möglich ist, aus der europäischen Theaterlandschaft ab. Sie sähe in Zukunft schlichtweg alt aus! Wir schreiben diesen Brief auch aus Sorge um die Möglichkeiten unserer Arbeit als Theaterwissenschaftler im Ruhrgebiet. Wir betreiben Theaterwissenschaft als eine kritische Wissenschaft, die ihre Fragen nicht zuletzt im Dialog und in der Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen Bühnenpraxis gewinnt. Frank Castorfs Theaterarbeit gehört zu den wichtigsten Positionen eines sich als politisch begreifenden Theaters in der Gegenwart. Wir halten es für unverzichtbar, daß angehende Theaterwissenschaftler und -praktiker sich mit dieser Arbeit auseinandersetzen, sie früh und intensiv kennenlernen können. Schließlich möchten wir den DGB an seine Verantwortung für die Tradition der Ruhrfestspiele erinnern. Diese Festspiele stehen in besonderen Maße für ein Theater, das sich zur Verantwortung für die Gesellschaft bekennt. Diese Verantwortung muß immer wieder neu definiert und formuliert werden. Wie einige wenige andere Regisseure hat Frank Castorf in seiner Theaterarbeit in den vergangenen Jahren die politischen Fragen der Gegenwart untersucht und verhandelt - etwa die nach der Möglichkeit und Zukunft des Gemeinwesens jenseits seiner totalitären Ausformungen im Staatssozialismus und seiner völligen Aufgabe im freien Spiel der Kräfte des Marktes oder die nach dem Verhältnis von Osten und Westen im zusammenwachsenden Deutschland und Europa. Wie kaum ein anderer hat er aber mit seinen hochmotivierten und -engagierten Schauspielern für diese Fragen ästhetische Formen gefunden, die über die bekannten Antworten von Piscator über Brecht bis ins Regietheater der 70er-Jahre hinaus gehen. Diese Formen waren im Ruhrgebiet bisher nicht zu sehen und es wird noch einige Zeit brauchen bis sich für sie hier ein Verständnis herausbilden wird. Es kann, ja muß die Aufgabe des DGB sein, heute wie in den vergangenen Jahrzehnten die Ruhrfestspiele zum Ort zu machen, an dem diese Arbeit der Vermittlung stattfindet! Bochum, 25. Juni 2004 Institut für Theaterwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum: Prof. Dr. Ulrike Haß Prof. Dr. Guido Hiß Dr. Nikolaus Müller-Schöll Der Fachschaftsrat der Theaterwissenschaft |