Das Original
PRESSEMITTEILUNG Bündnis 90/Die Grünen
die weichgespülte Fassung im Internet
NR. 0680/2001
Datum: 4.12.2001
Die Pisa-Studie kann ein heilsamer Schock sein
Anlässlich der heutigen Vorstellung der "Pisa"-Studie erklären Reinhard Loske, bildungspolitischer
Sprecher der Bundestagsfraktion, und Niombo Lomba, Mitglied im Bundesvorstand:
Die Tatsache, dass deutsche Schüler im internationalen Vergleich nur noch als Mittelmaß gelten können,
sollte uns alle aufrütteln. Wir brauchen jetzt eine ernsthafte Debatte über die Ursachen der Misere und
darüber, wie unsere Schulen wieder besser werden können. Auf dieser Grundlage sind dann innerhalb von
ein bis zwei Jahren klare Ziele zu formulieren und schrittweise umzusetzen - qualitative (Lehrerausbildung, Lernformen
und -inhalte), quantitative (Bildungsinvestitionen, Stellenanzahl und Leistungsbesoldung) und zeitliche Ziele (angestrebter
Zeitpunkt der Zielerreichung).
Die Kultusministerkonferenz muss endlich ihre gesamtstaatliche Verantwortung erkennen und wahrnehmen. Der Bund
muss in dieser Diskussion eine aktive Rolle einnehmen und hat, etwa bei der Einführung einer leistungsbezogenen
Lehrerbesoldung, auch gesetzgeberische Kompetenz.
Von allergrößter Bedeutung ist nun, dass die Diskussion über die Zukunft unserer Schulen keine
Expertendiskussion zwischen Bildungsplanern und Bildungspolitikern bleibt, sondern in die Familien, Schulen und
Betriebe hinein getragen wird. Den Kampf zwischen dreigliedrigem Schulsystem und Gesamtschule wieder aufleben zu
lassen, trägt ebenso wenig zu einer Lösung bei wie die flotten Sprüche eines Guido Westerwelle.
Sofern es jetzt schon möglich ist, Schlüsse aus der Pisa-Studie zu ziehen, legt sie aus unserer Sicht
Folgendes nahe:
Soziale Unterschiede werden in Deutschlands Schulsystem bislang eher vertieft als abgebaut. Kinder aus Elternhäusern,
in denen Bildung keine Wertschätzung genießt und Neugier nicht gefördert wird, bleiben auf der
Strecke. Vor allem die Kinder von Migranten, in deren Elternhäusern kein oder schlechtes Deutsch gesprochen
wird, sind die Verlierer. Wenn auch klar ist, dass die Schule Defizite in den Familien nur zum Teil ausgleichen
kann, so drängen sich doch folgende Konsequenzen auf: Den Kindergärten muss in Zukunft ein noch größerer
Stellenwert zukommen. Sie sind eben nicht nur reine Verwahranstalten, sondern sollen auch pädagogische Einrichtungen
sein, die die kindliche Phantasie anregen und Begabungen fördern. Ganztagsschulen sind nicht nur aus pädagogischen
und familienpolitischen Gründen sinnvoll, sondern auch als Instrument zum gezielten Abbau von herkunftsbedingten
Nachteilen. Wo immer möglich, sollten sie eingeführt werden. Ein hinreichendes Angebot an qualifizierten
Sprachkursen für Migranten ist auch ein Beitrag zur Sicherstellung von Chancengleichheit in der Schule: Wo
Eltern und Kinder die gleiche Sprache sprechen können, wird auch mehr über das in der Schule Vermittelte
diskutiert.
Ein Kernproblem an unseren Schulen liegt heute in einem überkommenen Unterrichtsverständnis: Die Vorstellung,
dass möglichst homogene Schülergruppen in der gleichen Zeit das Gleiche lernen, prägt die vorherrschenden
Unterrichtskonzeptionen. Damit werden weder Leistungsstarke noch Leistungsschwache gefördert. Das Bildungssystem
hat aber die Aufgabe, die Entfaltung der Persönlichkeit zu fördern und die Unterschiedlichkeit der Menschen
zu einem zentralen Ansatz von Pädagogik und Didaktik zu machen.
In der Aus- und Fortbildung von Lehrkräften müssen die Fähigkeiten zur Diagnose und zum Umgang mit
unterschiedlichen Leistungsniveaus einen höheren Stellenwert erhalten. Die Qualität von Schulen und die
Leistungen der Schülerinnen und Schüler werden sich verbessern, wenn es gelingt, eine Kultur von Evaluation,
Qualitätssicherung und -management einzuführen. Die Orientierung an abgearbeiteten Rahmenplänen
und Lehrstoffen reicht nicht aus, um sicherzustellen, dass Jugendliche über die notwendige Kompetenz verfügen,
die sie zur Bewältigung ihres Lebens brauchen. Wir wollen, dass Schulen auch zu Labors werden, in denen Projekte,
Experimente und die Öffnung zur Gesellschaft hin (zu Betrieben, Vereinen, Bürgerinitiativen.) breiten
Raum einnehmen.
Wir halten es für sinnvoll, auch in der Lehrerbesoldung Leistungen besonders zu honorieren, so wie dies jetzt
mit der Dienstrechtsreform auch an den Hochschulen geschehen wird. Eine entsprechende Initiative werden wir in
der nächsten Legislaturperiode ergreifen.
Nicht alle Bildungsprobleme können mit mehr Geld gelöst werden. Strukturreformen, Experimentierfreude
und ein allgemeiner Einstellungswandel in Sachen Bildung sind mindestens ebenso wichtig. Dennoch wird in Zukunft
mehr Geld notwendig sein, um unser Bildungssystem zu verbessern. Die Politik muss jetzt Prioritäten setzen:
Statt das Autofahren und niedergehende Industriezweige zu subventionieren, muss sie in die Zukunft unserer Kinder
investieren.