Liebe Eltern, liebe Schülerinnen
und Schüler von Bochumer Gymnasien, von anderen Schulen, liebe Gäste!
Ich freue mich, dass ich die
Gelegenheit erhalten habe, heute hier zu Ihnen zu sprechen, und dass Sie so zahlreich erschienen sind.
Die Gewerkschaft Erziehung und
Wissenschaft ist eine
Bildungsgewerkschaft und organisiert Mitglieder
aus allen Schulformen. Wir, die GEW warnt seit Langem - in Aktionen, Gremien, Gesprächen, Presseverlautbarungen,
usw.: Bildung in unserem Lande ist in Schieflage, Bildung in unserem lande ist in Not!
Dieses ist heute ein Aktionstag
der Eltern der Bochumer Gymnasien. Ich betone das ausdrücklich aus zweierlei Gründen: Erstens geht es
um die Zukunft Ihrer Kinder an der privilegiertesten Schulform. Und zweitens beklagen gerade Sie als Eltern die
Schieflage der Bildung in NRW - aus Ihren negativen Erfahrungen heraus, von den schlechten Lernbedingungen für
Ihre Kinder. Damit
haben Sie sich an die zuständige Ministerin,
Frau Behler, in einem offenen Brief gewandt,.und Sie sind dabei, sich an der zuständigen Ministerin die Zähne
auszubeissen – und stehen mit Ihrem Anliegen abgebügelt da, denn was nicht sein darf, das nicht sein kann.
Die Durchschnittszahlen stimmen aus Sicht der Ministerin in NRW, ihre Bildungspolitik ist angeblich erfolgreich.
Glauben Sie das nur bedingt. Man kann alles schönreden und schönrechnen.
Und da möchte ich nun zuerst
ansetzen. Die Ministerin bezeichnet übrigens die Datenerhebungen der GEW als wenig relevant und überzogen.
Glauben Sie auch das nicht. Diese Zahlen sind nicht unsere Erfindung, sondern die Daten der Kultusministerkonferenz,
alle Daten sind nachzulesen, diese stammen aus dem Schuljahr 2000/2001.
1.) Einige
statistische Daten zur Situation an den Gymnasien landesweit im Bundesvergleich, die die Bochumer Situation bestätigen:
- NRW
liegt mit den erteilten Unterrichtsstunden je Schüler/in bei den Gymnasien Klasse 5 bis 10 auf dem 14. von
16 möglichen Plätzen, weit unter dem Durchschnitt ;
- NRW
liegt bei den erteilten Unterrichtsstunden pro Klasse ebenfalls auf dem 14. Platz, d.h. nicht einmal die Größe
der Klassen konnte die Daten verbessern;
- NRW
liegt bei den Schülerinnen und Schülern pro Lehrer/in in dieser Jahrgangsstufe auf dem 13. von 16 Plätzen;
- NRW
liegt bei den Gymnasien Klasse 5 bis 10 bei den Klassengrößen auf dem 12. bzw. 13. Platz von 16.
2.) Einige
statistische Daten, nur auf NRW bezogen, landesweit (Amtliche Schuldaten):
- Der
erteilte Unterricht hat in diesem Schuljahr im Vergleich zum Vorjahr weiter abgenommen. Es wurden 5.375 Stunden
weniger unterrichtet, die Schülerzahl stieg gleichzeitig um 1.932 an. Das bedeutet Unterrichtsausfall oder
Unterricht nicht erteilt. Unterricht, der mangels Lehrermasse gar nicht erteilt werden kann, taucht natürlich
bei den erteilten Stunden erst gar nicht auf.
-
Die Klassengrößen
in den Klassen 5 bis 10 am Gymnasium haben weiter zugenommen. 31 und mehr Schülerinnen werden in 2.747 Klassen
unterrichtet. Die Frage, die sich immer wieder stellt, wenn die Ministerin auf den zulässigen Schnitt verweist,
den sie tatsächlich landesweit erreicht: Was kann das Kind dafür, dass es in einer großen Klasse
lernen muss?
Tatsache
ist: Die Klassen in NRW sind zu groß.
3.) Die Stundentafel in NRW weist im Vergleich zu anderen Bundesländern
ein geringeres Volumen auf. Bis zum 9. Schuljahr werden 1000 Stunden weniger Mathematik unterrichtet als in Bayern.
Auch wenn die Lesekompetenz nach der Ergänzungsstudie zu Pisa offenbar nicht ganz so kläglich wie erwartet
ausgefallen ist, so sind doch diese Rückstände keineswegs ein Grund, irgendwo in NRW Zufriedenheit zu
zeigen.
Tatsache
ist: Es wird zu wenig Unterricht erteilt.
4.) Unterrichtsausfall
muss erst einmal durch Vertretungsunterricht aufgefangen werden. Die GEW beklagt, wie Sie auch, die wegrationalisierte
Vertretungsreserve von über 4000 Stellen. Das Programm Geld statt Stellen mit seinem geringen Umfang kann
den anfallenden Vertretungsbedarf nicht annähern decken. Zudem konnte es nicht ausgeschöpft werden, da
nicht genügend Lehrerinnen und Lehrer auf Abruf bereit standen. Deshalb wird es jetzt
um 30 Millionen Euro gekürzt – weil sowieso
nicht genügend Lehrerinnen und Lehrer da sind, die vertreten können. Eine außerordentlich schlüssige
Logik, nachdem die Landesregierung dafür gesorgt hat, dass der Lehrerarbeitsmarkt leergefegt ist oder noch
vorhandene Lehrerinnen und Lehrer in andere Bundesländer abwandern, weil sie dort bessere Arbeitsbedingungen
vorfinden.
Tatsache
ist: Wir haben Unterrichtsausfall, der beseitigt werden muss. Wir brauchen eine Vertretungsreserve von mindestens
7%.
5.) Wir
brauchen mehr Lehrerinnen und Lehrer, um aus der Bildungsmisere für ganz Deutschland herauszukommen. In den
vergangenen Jahren ist im Bildungsbereich so gespart worden, besonders in NRW, dass wir jetzt die Quittung bekommen
haben für Unterrichtsausfall, Stellenkürzungen, Mehrbelastungen für die Lehrkräfte, Mängelverwaltung,
marode Schulgebäude, zu wenig junge Lehrerinnen und Lehrer und falsche Ausbildungsprognosen - um nur einige
Beispiele zu nennen. Dabei ist eigentlich kein Arbeitsmarkt besser vorauszuplanen als der der Lehrerinnen und Lehrer,
denn die Geburtenrate ist immer sechs Jahre vorher bekannt.
Tatsache
ist: Wir brauchen mehr Lehrerstellen.
6.) Ein
weiterer Punkt ist die Auslese durch Wiederholen und Sitzenbleiben. Jahr für Jahr bleiben 15.000 Schülerinnen
und Schüler in den Klassenstufen 5 bis 10 sitzen. Aus der gymnasialen Oberstufe kommen noch einmal rund 5.000
hinzu. Sie werden mir sicherlich zustimmen, auch wenn Sie die Schulform Gymnasium bewusst für Ihr Kind gewählt
haben, als Ihren Arbeitsplatz gewählt haben, dass wir in Deutschland diese Negativauslese nicht länger
akzeptieren sollten. Länder wie Finnland machen es uns mit einem integrierten System vor, das hohe Abschlüsse
ohne Sitzenbleiben und ohne Leistungsdruck vermittelt: durch ein individuelles Förderprogramm, das qualitativ
hohe Bildung und eine hohe Abschlussquote einschließt. Wir brauchen allerdings ein qualifiziertes und unterstützendes
Fördersystem, um Kindern und Jugendlichen bei ihren Schwierigkeiten helfen zu können, auf ihre Begabungen
eingehen zu können, in welcher Schulform auch immer.
Tatsache
ist: In Deutschland wird zu viel ausgelesen und zu wenig gefördert. Wir brauchen mehr Zeit zum Lernen und
zum Fördern.
Nach
den Gründen für die schlechteren Startbedingungen Ihrer Kinder beim Einstieg in Beruf oder Studium wird
irgendwann niemand mehr fragen – die Schüler/innen selbst werden dann die Betrogenen sein.
Dafür
zu streiten, dass all die genannten Kritikpunkte für das Gymnasium abgestellt werden, dafür zu kämpfen,
dass die Stundentafel erfüllt wird, Unterrichtsausfall beseitigt wird, die Klassen kleiner werden, mehr junge
Lehrerinnen und Lehrer in die Schulen kommen, Lehrerinnen und Lehrer besser für die Praxis aus- und fortgebildet
werden, lernen, differenziert und fördernd zu arbeiten, dafür sind Sie heute auf die Straße gegangen.
Lassen Sie sich nicht abschrecken von Ministerin Behler, für Ihre Ziele als Eltern zu demonstrieren. Lassen
Sie es nicht zu, dass man uns gegeneinander ausspielt – Eltern, Lehrerinnen und Lehrer, Schülerinnen und Schüler.
Frau Behler ist bekannt für ihr Geschick, den Schwarzen Peter allen anderen zuzuschieben und von ihren eigenen
Fehlern abzulenken. Sie kennen die Schulen vor Ort besser als die Ministerin. Bleiben
Sie bei Ihren berechtigten Forderungen. Wenn nicht Sie, die Eltern, wer dann?
Ich
wünsche Ihnen viel Durchhaltevermögen und Erfolg!