Unsere zweite Chance -
Nutzen wir sie!


Internationale Schulleistungsvergleiche aus jüngster Zeit haben nüchterne- um nicht zu sagen- desillusionierende Ergebnisse über die Leistungen deutscher Schülerinnen und Schüler in Mathematik und Naturwissenschaften hervorgebracht. Die politischen Reaktionen auf das als katastrophal empfundene Abschneiden bei TIMSS (Third International Mathematics and Science Studies) waren nicht minder katastrophal. Anstatt eine unaufgeregte Analyse der Ergebnisse durchzuführen und dafür ergänzende wissenschaftliche Untersuchungen mit differenzierten schulpolitischen Fragestellungen zum besseren Verständnis einzuholen, trat die Politik in allen Bundesländern die Flucht nach vorne an und suchte Sündenböcke. Den Schulen wurden "von oben" im besten schlechten Obrigkeitsstil angeblich qualitätssichernde Maßnahmen verabreicht.

Zu einer Politik der "ruhigen Hand", wie man sie beispielsweise in der Schweiz an den Tag legte, fehlte die Besonnenheit. Dort wurden die Ergebnisse von TIMSS zur Klärung der Frage genutzt, welche Bedingungen und Merkmale Schulen haben müssen, um ihre SchülerInnen optimal zu fördern. U. a. kam man auf diese Weise zu dem aufschlussreichen Ergebnis, dass die im internationalen Vergleich eher kleinen Klassen in der Schweiz zur Qualität des Unterrichts und zu den guten Lernergebnissen in Mathematik beitragen.

Die Kampagne gegen die Gesamtschule, von konservativer Seite angezettelt, war das übelste Beispiel für schnelle, ideologisch motivierte Schuldzuweisungen und für eigene politische Entlastung. Obwohl die integrierten Gesamtschulen bundesweit nur einen Anteil von ca 10 % an dem ansonsten gegliederten Schulwesen haben, wurden sie zur Hauptursache für das schlechte Abschneiden erklärt.

Tatsächlich hätten wir aus TIMSS lernen können, dass es bei der Qualitätsverbesserung nicht um die quantitative Vermehrung des mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterrichts geht, sondern um eine andere Art des Lernens und Lehrens. Stattdessen wurde der Unterrichtsausfall von manchen zum beherrschenden Thema gemacht. Damit wurde die einfache Erkenntnis weggedrückt, dass für erfolgreiches Lernen Lehrerinnen und Lehrer Spezialisten für Lernen sein müssen, die den ganzen Schüler mit seiner Lebenswirklichkeit berücksichtigen.

Wir hätten aus TIMSS lernen können, dass es ohne Breitenförderung keine Spitzenleistungen gibt. Dennoch haben die Kultus- und Schulminister in den Ländern zur Sicherung von Qualität den Weg der Auslese, der Ausgrenzung und der Konkurrenz gewählt.

Die Folgen sind jetzt schon sichtbar. Wir verzeichnen einen bundesweiten Anstieg der Sitzenbleiberquoten. Die Sonderschulbesuchsquote ist überall in Deutschland steigend. Die Zahl der Schulformwechsler von anderen Schulformen zur Hauptschule verzeichnet allein in NRW einen Anstieg von 3,8 % auf 4,6 % vom Schuljahr 1999/2000 zum Schuljahr 2000/2001. Die besonders in NRW politisch vielgerühmte Durchlässigkeit ist faktisch gleichbedeutend mit einem Abstieg. Auf 5 SchülerInnen, die in anspruchsvollere Bildungsgänge der Sekundarstufe I wechseln, kommen 100 Absteiger. Vor 10 Jahren betrug das Verhältnis von Aufstieg zu Abstieg noch 20 : 100. Obwohl wir einen höhere Abiturientenquote brauchen, wenn wir OECD-Kriterien für wirtschaftliche Entwicklung anlegen, stagniert sie bundesweit auf niedrigstem Niveau im europäischen Vergleich bei 27,8 %.

Nun sind die Ergebnisse von PISA (Program for International Student Assessment) da! PISA hat im Auftrag der OECD das erweiterte Leseverständnis von 15- Jährigen im internationalen Vergleich getestet. Darunter ist die Fähigkeit zu verstehen, gedruckte und geschriebene Informationen zu nutzen, um sich in der Gesellschaft zurecht zu finden, eigene Ziele zu erreichen und das eigene Wissen und Potenzial weiterzuentwickeln. Deutschland hat sehr schlecht im Gesamtergebnis abgeschnitten. Die Gruppe der leistungsschwächeren und sozial benachteiligten SchülerInnen schneidet ganz besonders schlecht ab, aber die leistungsstarken sind auch nur Mittelmaß.

Wir wissen auch, dass die zuständigen Ministerien sich auf diesen Tag der Veröffentlichung vorbereitet haben. Welche Linie sie fahren werden, ist nicht klar erkennbar. Man kann sich nur wünschen, dass sich das Trauerspiel wie bei TIMSS nicht wiederholt. Hier liegt die zweite Chance, nüchtern, unvoreingenommen und tabufrei zu untersuchen, warum wir mit unserem Bildungssystem zum Schaden für den einzelnen und die Gesellschaft so wenig Qualität für alle SchülerInnen sicherstellen können.

Könnte es sein, dass dieses Ergebnis in Verbindung mit der Tatsache steht, dass wir in Deutschland zu wenig in präventive Maßnahmen im Elementar-und Grundschulbereich investieren? Zahlen der OECD legen dies immerhin nahe, verfahren wir doch nach dem Prinzip: Je älter die SchülerInnen, desto mehr sind sie uns wert. Könnte es sein, dass wir in Deutschland zu wenig fördern und zu viel selektieren? Und könnte es sein, dass den schwächeren Schülerinnen und Schülern die heterogene Lerngruppe als lernförderliche Umgebung fehlt? Wir in Deutschland haben das Homogenitätsprinzip zum Leitgedanken des gegliederten Schulwesens gemacht. Im Gegensatz zu den erfolgreich abschneidenden Ländern in Europa sortieren wir zu einem frühen Zeitpunkt die Leistungschwächeren aus und trennen sie von den Leistungsstärkeren.
Auch neue Untersuchungen der European Agency for the development of special needs education, die sich mit den Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf beschäftigt, legen diesen Zusammenhang nahe. Sie bestätigen, dass leistungsheterogene Settings für die Lernentwicklung der Kinder und Jugendlichen mit Lernproblemen besonders wichtig sind.

Die PISA-Ergebnisse mögen nicht gefallen, sie sind aber unsere zweite Chance, bildungspolitisch zu begreifen, dass der Rückgriff auf Verschärfung der Leistungsselektion nicht taugt für die Verbesserung der Lernleistungen aller Kinder und Jugendlichen.

Brigitte Schumann
Sprecherin der LAG Schule und Bildung für B`90/Die Grünen in NRW
Rüttenscheider Str.18
45128 Essen