Herrn

        Oberbürgermeister Stüber

        An die im Rat der Stadt Bochum

        vertretenen Parteien:

        SPD-Fraktion, CDU-Fraktion,

        Fraktion Die Grünen, UWG-Fraktion,

        Vertretung der FDP

        44777 Bochum

        Bochum, den 20.09.2000

         

        Nachrichtlich: an die Lokalpresse

         

        Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Stüber,

        sehr geehrte Damen,

        sehr geehrte Herren,

         

        wir wenden uns heute an Sie, um Sie um Informationen über den Stand der Dinge bezüglich der Resolution des Rates der Stadt Bochum vom 27. Januar 2000 "Humanitäre Hilfe für ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter" zu bitten.

        Diese Resolution wurde bei uns als eine höchst erfreuliche kommunale Ergänzungsmaßnahme zu dem auf Bundesebene einzurichtenden Stiftungsfonds "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" aufgenommen und intensiv diskutiert. Spätestens seit dem Besuch einer Delegation von ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern aus unserer Partnerstadt Donezk im Mai dieses Jahres wissen wir auch, daß an die Bochumer Resolution vom 27. Januar recht konkrete Erwartungen und Hoffnungen geknüpft werden.

        Nach mehr als einem halben Jahr seit der Verabschiedung der Resolution halten wir es für unbedingt erforderlich, daß im Rat der Stadt Bochum über die bisherigen Aktivitäten eine Zwischenbilanz gezogen und die Bochumer Öffentlichkeit über die Ergebnisse umfassend informiert wird.

        Wir möchten nun an Sie, Herr Oberbürgermeister, und an den Rat unserer Stadt einige Fragen richten sowie einige konkrete Vorschläge zur Diskussion stellen.

    • Wie viele Namen von ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern sind den zuständigen Institutionen der Stadt bislang bekannt?
    • Gibt es schon Überlegungen oder sind bereits Vorbereitungen getroffen worden, um eine Delegation von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern aus Donezk und anderen Orten für das Jahr 2001 nach Bochum einzuladen?
    • Wie vielen ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern konnte bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt von Seiten der Stadt Bochum bestätigt werden, daß sie im Bochumer Raum Zwangsarbeit leisten mußten?
    • Auf welche praktischen Bereiche bezieht sich der Begriff "humanitäre Hilfe" im einzelnen?
    • Welche Bochumer Firmen beteiligen sich an der städtischen Initiative, und wie hoch ist deren finanzielle Unterstützung bisher?
    • Beteiligen sich darüber hinaus auch Organisationen, Verbände, Gruppen, Initiativen und Einzelpersonen im Sinne der Resolution des Rates?

 

        Wir erlauben uns, dieser Reihe von Fragen folgende Vorschläge an die Seite zu stellen.

        Zur humanitären Hilfe:

    • Um eine wirksame humanitäre Hilfe gewährleisten zu können, ist es u. E. unumgänglich, sich ein lebensnahes Bild von den sozialen Bedingungen zu machen, denen ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter ausgesetzt sind. Hierbei könnten insbesondere die Kenntnisse und Erfahrungen der Gesellschaft Bochum-Donezk nutzbar gemacht werden.
    • Viele Menschen aus dem betroffenen Personenkreis befinden sich in einem gesundheitlich schlechten Zustand und leben in Armut. Gezielte medizinische Hilfe und Unterstützung bei medizinischer Behandlung könnten eine effektive Hilfe sein.
    • Ebenso könnten Sachspenden und nötigenfalls finanzielle Hilfen auf individuelle Bedürfnisse und Notlagen von Menschen, die in Bochum und Wattenscheid zu Opfern von Zwangsarbeit wurden, abgestimmt werden.
    • Besonders alleinstehende Personen sollten unterstützt werden.

        Zur wissenschaftlichen Aufarbeitung, zur Öffentlichkeitsarbeit und politisch-ethischen Aufklärung im Hinblick auf die Schicksale von ehemaligen Bochumer Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern:

    • Eine solche Aufgabenstellung ist nach unserer Einschätzung nur dann erfolgversprechend umsetzbar, wenn eine Kooperation mit dem Arbeitsamt, den Krankenkassen und den Berufsgenossenschaften ermöglicht wird und Einsicht in die noch vorhandenen Akten über ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter genommen werden kann.
    • Bochumer Firmen müßten bewegt werden, ihre Archive für historische Recherchen zu öffnen.
    • Es könnten Gesprächstermine mit Bochumer Firmen anberaumt und entsprechende schriftliche Vereinbarungen über die Öffnung der Archive ausgearbeitet werden.

        Zur Zusammenarbeit mit Bochumer Einrichtungen, Verbänden, Vereinen etc. zur nachhaltigen Realisierung der im Rat der Stadt Bochum verabschiedeten Resolution:

    • In Bochum gibt es ein breites Spektrum von Institutionen, Organisationen, Initiativen und Einzelpersonen, die sich mit dem Themenbereich "Zwangsarbeit" auseinandergesetzt haben und über ein vielfältiges Wissen verfügen. Dieses Wissens- und Erfahrungspotential könnte beispielsweise über einen von der Stadt Bochum ins Leben gerufenen, regelmäßig tagenden ‘Runden Tisch’ von Interessierten im Sinne historischer Aufarbeitung und Verantwortung zusammengebracht werden.

 

        Für die Aktivitäten unserer Initiative "Entschädigung jetzt!" läßt sich in der hier gebotenen Kürze bereits ein Resümee skizzieren.

    • Wir kamen mit Vertretern der Industrie- und Handelskammer Bochum zu einem Gespräch zwecks Austausch von Informationen zusammen.
    • Wir wandten uns brieflich an den Präsidenten des Deutschen Roten Kreuzes, Herrn Prof. Dr. Knut Ipsen, um uns nach Möglichkeiten der Beschleunigung und technischen Verbesserung der Bearbeitung von Anfragen beim Internationalen Suchdienst in Arolsen zu erkundigen. Herr Ipsen lud ein Mitglied unserer Bürgerinitiative zu einem Gespräch ein und sicherte uns auch in seinem Antwortschreiben zu, sich für Verbesserungen einzusetzen.
    • Wir sandten einen Brief mit einer Einschätzung zum Stand der Entschädigungsverhandlungen an den Präsidenten der Vereinigten Staaten, Mr. Bill Clinton.
    • In Briefen an Bochumer Bundestagsabgeordnete aus den Reihen der Regierungskoalition und der Opposition entwickelten wir Vorschläge bezüglich des Gesetzesvorhabens zur Entschädigung ehemaliger Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter. Frau Christel Humme (SPD, MdB) und Vertreter unserer Initiative kamen zu einer intensiven und für beide Seiten positiv verlaufenden Gesprächsrunde zusammen. Herr Jochen Borchert (CDU, MdB) ließ uns einen gleichfalls positiven Antwortbrief zukommen. Beide Bundestagsabgeordnete sicherten uns zu, unsere Überlegungen aufzugreifen und in die parlamentarischen Beratungen einfließen zu lassen.
    • Durch die vielfältigen Aktivitäten, insbesondere die Informations- und Öffentlichkeitsarbeit unserer Initiative, aber auch durch das Engagement der VVN-BdA Bochum, der Gesellschaft Bochum-Donezk und anderer, konnten vier namhafte Bochumer Firmen, Jahnel-Kestermann, Gebr. Eickhoff, Fahrzeugwerke Lueg und Aug. Hackert, dazu bewegt werden, dem Fonds "Stiftungsinitiative der Deutschen Wirtschaft" beizutreten.

        Die Bochumer Bürgerinitiative "Entschädigung jetzt!" wird ihre Arbeit weiter fortführen.

        Es mangelt nach unseren Erfahrungen nicht an Zuspruch und Engagement von interessierten Bürgerinnen und Bürgern, die sich der Notwendigkeit einer verantwortungsvollen Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte und Gegenwart bewußt sind. Demgegenüber ist aber auch festzustellen, daß einige der Bochumer Firmen, die in das System der Zwangsarbeit involviert waren, sich nach wie vor ihrer historischen wie auch finanziellen Verantwortung entziehen. Dieser Aspekt kann u. E. als symptomatisch für den bundesweiten Trend angesehen werden, daß die Zusage der deutschen Wirtschaft, einen Betrag von fünf Milliarden DM aufzubringen, eben noch längst nicht erfüllt wurde.

        Wir ersuchen Sie, Herr Oberbürgermeister, um einen Gesprächstermin noch im Oktober dieses Jahres mit Vertretern unserer Bürgerinitiative.

        Wir bitten Sie und die im Rat vertretenen Parteien nachdrücklich um die Erörterung unserer Fragen und Vorschläge in einer der nächsten Ratssitzungen. Unabhängig davon wären wir Ihnen für eine rasche Beantwortung unseres Briefes dankbar.

        Mit freundlichen Grüßen

        gez. Lutz Berger, VVN-BdA Bochum
        Ulrich Borchers, Betriebsratsvorsitzender IG Metall Bochum
        Annemarie Grajetzky, Frauen für den Frieden in der EKvW, Gruppe Bochum
        Waltraud Jachnow, Vorsitzende der Gesellschaft Bochum-Donezk
        Dr. phil. Wilfried Korngiebel
        Pfr. Ulrich Kosfeld
        Klaus Kunold, Vorsitzender der VVN-BdA Bochum
        Doris Lattek
        Karin Schiele, Vorstandsmitglied der GEW Bochum
        Dr. Hubert Schneider, "Erinnern für die Zukunft"
        Gernot Schubert, Unabhängiges Radio Bochum
        Susanne Slobodzian M.A.
        Reinhard Wegener, Soziokulturelles Zentrum Bahnhof Langendreer/Politik
        im Auftrag der Initiative "Entschädigung jetzt!"