Beobachtungen am 19.10.2004 aus einer Stadt in Deutschland am Mittag und am Abend
des gleichen Tages
von Heinrich Linzer
12.45 Uhr mittags hatten sich Tausende von Menschen, zumeist Arbeiter und Angestellte der in dieser Stadt ansässigen
Firmen und Werke wie z.B. ein Automobilwerk, sowie aus dem Rathaus und anderer Bereiche der kommunalen Dienste
auf die Straßen begeben. Sie forderten: Keine Kündigung ihrer Arbeitsverträge.
Der Versammlungsort war der Vorplatz des Stadt-Theaters. Dort wartete ein gewaltiges Aufgebot von TV-Kameras -
alle großen Sendeanstalten Deutschlands waren vertreten. Die Polizeibeamten hielten sich im Hintergrund.
Sie regelten den Straßenverkehr. Während Versammlungsteilnehmer auf der Tribüne Reden hielten,
flog ein Hubschrauber tief über den Versammlungsort. Er verharrte in der Luft auf der Stelle. Wegen des ohrenbetäubenden
Lärms war es bereits von der Mitte der Versammlung aus nicht möglich, die über Lautsprecher übertragenen
Reden zu verstehen.
In der hinteren Reihe der Redner auf der Bühne stand ein bekannter Politiker. Einige Versammlungsteilnehmer
schrien: "Judas, Judas".
Er hielt keine Rede.
Einige Versammlungsteilnehmer erfuhren durch Mundpropaganda, es solle am gleichen Tag abends zu einem Auftritt
der Nazis am Bahnhof kommen, um ihre "Solidarität" mit den kämpfenden deutschen Arbeitern auszuüben
"in Absprache mit der Polizeiführung der Stadt" so die NPD-NRW in einer Pressemitteilung.
Einige, blickten ungläubig, erschraken, sagten "Scheiße" und gingen einfach
weg.
Wenig andere erklärten, sie seien dagegen. Nur einer fragte nach. Er wollte wissen, wo die Nazis zu demonstrieren
gedenken. Er wollte dann abends kommen und dagegen protestieren.
18.00 Uhr am Abend vor dem Hauptbahnhof der Stadt - weiße Baucontainer der Deutschen Bundesbahn, riesigen
Bauklötzen gleichend, stehen vor dem Haupteingang, teilweise übereinander gestapelt. Der Bahnhof wird
seit Wochen renoviert.
Passanten, den Bahnhof querend, aus ankommenden Zügen strömend, den Bahnhof verlassend, müssen sich
durch eine Öffnung des stark verkleinerten Haupteinganges zwängen. Ca. 20 Polizisten, teilweise in Kampfanzügen,
stehen in der Öffnung, davor und daneben.
Eine kleine Gruppe von Passanten steht mitten zwischen den Polizisten. Es ist erstaunlich, wie ruhig und flexibel
sich viele Menschen in diesem Nadelöhr bewegen.
18.15 Uhr - ein leitender Polizeibeamter und ein weiterer Polizist treten an die kleine Gruppe von Passanten heran.
Der leitende Polizeibeamte sagt: "So, wer ist hier der Versammlungsleiter?"
18.30 Uhr zieht sich der leitende Polizeibeamte wieder zurück und stellt sich zu den anderen Polizisten und
Zivilpolizisten. Er hat keinen Versammlungsleiter gefunden.
Plötzlich durchdringender Lärm, klingt nach verstärktem Männergebrüll, verstärkt
durch Lautsprecher. Ca. 80 Polizisten in Kampfanzügen rennen in hoher Geschwindigkeit auf eine große
Durchgangsstraße, direkt neben dem Bahnhof und sperren den Durchgangsverkehr. Passanten wird die Überquerung,
der Durchgang verweigert. Die Polizei begründet dies mit den Worten: "Dies geschieht zu ihrer eigenen
Sicherheit." Sie schickt Passanten zurück, fordert sie auf, den abgesperrten Bereich weiträumig
zu umgehen.
Jetzt erscheint hinter der polizeilichen Abriegelung eine Ansammlung von Personen - mitten auf der Straße.
Der Gang der Personengruppe hat einen trödelnden Charakter.
Die Polizisten geben der Nazigruppe viel, sehr viel Platz, drängen jedoch Passanten auf dem Gehweg zusammen.
Einige der Nazis sind vermummt durch Kapuzen, die mit ihren Jacken verbunden sind, andere halten ein schwarzes
Tuch am Anfang ihrer Gruppe hoch. Sie verbergen sich dahinter.
Eine männliche Stimme brüllt über Lautsprecher, den die Gruppe mit sich führt: "Hier marschiert
der nationale Widerstand"
Passanten brüllen zurück "Nazis raus" .Einer der Passanten ruft mit lauter Stimme: "Hier
marschiert die Dummheit".
Die Polizisten in Kampfausrüstung ziehen ihre Handschuhe an. Sie rücken noch enger zusammen.
Junge männliche Passanten freuen sich. Sie lachen laut. Sie springen und rennen aufgeregt zwischen den anderen
Passanten hin und her. Einer brüllt: "Zecken klatschen"
Die Naziansammlung auf der Straße zieht lärmend in Richtung Innenstadt weiter. Die Polizisten gewähren
ihnen weiter viel Platz auf der Straße, obwohl es sich bei dieser Gruppe um höchstens 35 Personen handelt.
19.15 Uhr allmählich leeren sich die Straßen der Innenstadt. Einige Geschäfte haben dort bis 20.00
Uhr geöffnet. Es wird gefährlich für einzelne Passanten, sie beschleunigen deutlich sichtbar ihre
Schritte.
20.00 Uhr senden die deutschen Sendeanstalten die Abendnachrichten. Sie zeigen die Versammlung auf dem Platz des
Stadt-Theaters aus der Vogelperspektive, die TV-Kameras stehen auf dem Balkon des Stadt-Theaters. Auf dem Bildschirm
sind stimmungsvoller Bilder von Menschen, die nicht zu bemerken scheinen, daß sie gerade von TV-Kameras in
der Totalen fotografiert werden. In journalistischen Kommentaren, sie werden auch politische Kommentare genannt,
fallen Sätze wie:"Jetzt muß verhandelt und umgehend die Arbeit in den Werken wieder aufgenommen
werden ... sonst wird das gesamte Werk geschlossen ... fristlose Kündigungen gegenüber den Anführern
können nicht ausgeschlossen werden ..." Ein Arbeiter spricht klar und offen in die TV-Kamera "Wir
müssen weiter kämpfen, sonst war das alles für die Katz" Bewohner am Rande der Innenstadt schließen
die Fenster ihrer Wohnungen. Das Lautsprechergebrüll der Nazis dringt aus der Innenstadt bis in die äußeren
Wohnbezirke.
Die Wohnstraßen sind menschenleer. Es ist sehr still. Viele Bewohner haben sich zu Bett begeben. Nur in einzelnen
Fenstern zuckt bläuliches Licht.
23.00 Uhr in einer deutschen Stadt am 19.10.2004
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