Vortrag von Prof. Norbert Wohlfahrt am 25.3. im Bahnhof Langendreer

Aktivierender Staat und Umsetzung des Hartz-Konzepts

1. Das Leitbild des aktivierenden Staats

Die rot-grüne Bundesregierung hat mit Kabinettsbeschluss vom 1.12.1999 erstmals ein Programm verabschiedet, das als Agenda des aktivierenden Staates zu lesen ist (vgl.
www.staat-modern.de). Das Programm mit dem Titel „Moderner Staat - moderne Verwaltung" basiert auf Vorarbeiten, die in sozialdemokratisch geführten Ländern schon seit Mitte der 1990er Jahre diskutiert und entwickelt wurden. Das Programm formuliert Ziele wie: die Selbstregulierungskräfte der Gesellschaft zu stärken, Ehrenamt, Bürgerengagement und Gemeinwohlorientierung zu fördern, die Eigenverantwortung des Einzelnen zu stärken, Bürgerbeteiligungsrechte an politischen und administrativen Entscheidungen weiter zu entwickeln, effizientes Verwaltungshandeln und Verwaltungsorganisation durch Wettbewerb und Leistungsvergleiche zu implementieren sowie ein neues Prinzip der Verantwortungsteilung zu etablieren, das den Staat zum Moderator und Impulsgeber der gesellschaftlichen Entwicklung macht, der mit staatlichen, halb-staatlichen und privaten Akteuren kooperiert, um gemeinsame Ziele zu erreichen. Der aktivierende Staat will nur noch Kernaufgaben in alleiniger Verantwortung erledigen und andere, bislang als öffentlich angesehene Aufgaben durch Dritte erfüllen lassen. Der Abbau der Leistungstiefe des Staates und der Umbau vom Leistungsstaat zum Gewährleistungsstaat steht ganz weit oben auf der Agenda (vgl. Reichard/Schuppan 2000), ebenso die „Erneuerung der Zivilgesellschaft" (Schröder 2000, S. 203).

Das Konzept des „aktivierenden Sozialstaates" (ebenso wie das des „Dritten Weges") begründet sich aus der seit den 1980er Jahren geforderten Notwendigkeit einer Neuorientierung der Sozialpolitik und insbesondere der Sozialhilfe und will als pragmatisches Leitbild verstanden werden, dem es um eine veränderte Vorstellung der Aufgabenteilung von Staat und Gesellschaft einerseits und Staat und Bürger andererseits geht. Das „Staatsparadox", dass der aktivierende Sozialstaat überwinden möchte, besteht zum einen in der Annahme, dass viele öffentliche Aufgaben durch Aktivierung der Bürger besser zu erbringen sein könnten, ohne dass sie als solche aufgegeben werden müssen, zum anderen hält es das Konzept für möglich, eine Vermittlung von kurzfristigen, egoistischen Interessen und den langfristigen Entwicklungsperspektiven der Gesellschaft ohne eine sog. „Wohlfahrts- oder Ökodiktatur" in Gang zu setzen. Es geht dem aktivierenden Sozialstaat um eine Neudefinition der wechselseitigen Aufgaben- und Verantwortungsteilung sowie Aufgabenwahrnehmung im Verhältnis von Staat, Gesellschaft und Bürger. Die Fokussierung der öffentlichen Auseinandersetzung auf das Thema Zivilgesellschaft, bürgerschaftliches Engagement und Ehrenamt gibt sich als demokratietheoretischer Diskurs zwischen Regierung und Bürgern, st aber lediglich die Inszenierung einer gesellschaftlichen Aufbruchstimmung, die das Ende traditioneller Sozialpolitik signalisiert.

Alle Länder, die sich dem Paradigma des aktivierenden Staates verschrieben haben (z.B. Clintons enabling state, Blairs dritter Weg, korporatistische Arbeitsmarktpolitik in den Niederlanden, Dänemarks strikter Arbeitszwang für Sozialhilfeempfänger, jugendliche und ältere Bezieher von Arbeitslosenunterstützung, Schröders Politik der Mitte), eint die zu beobachtbare Anstrengung, das etablierte „welfare-regime" in ein „workfare-regime" zu transformieren: die Ersetzung fürsorglicher Strategien und Instrumente der Betreuung und Versorgung durch aktivierende, passgenaue und die individuelle Eigenverantwortung stärkende Handlungsstrategien, die vorrangig arbeitsmarktpolitisch ansetzen und die Integration in den ersten Arbeitsmarkt zum Ziele haben. Die registrierbare schrittweise Indienstnahme der Sozialpolitik zu arbeitsmarkpolitischen Zwecken wird dort, wo politische Programme durch Verwaltungen und andere Organisationen der Praxis angepasst werden, durch den Einsatz autoritärer bis repressiver Instrumente begleitet. Strategien, die darauf abzielen, zum Umstieg aus der sozialen Hängematte auf das Trampolin (Hombach) zu motivieren, kommen nicht ohne die Androhung von Strafe und den Einsatz von Druck und Zwang aus: um die gesteckten Ziele zu erreichen, müssen Angebote gemacht werden, die man nicht ablehnen kann.



Da der Kernbereich aktivierender Sozialstaatsstrategien die Arbeitsmarktpolitik darstellt, ist es aus der Sicht einer aktivierenden Sozialpolitik nur konsequent, die Verpflichtung zur Arbeitsaufnahme nicht nur mittels Überzeugungsstrategien wie Information, Beratung, Appelle an die Eigenverantwortung u.ä., sondern auch durch regulative Politik (z.B. Änderung der im SGB III rechtlich fixierter Zumutbarkeitskriterien zur Aufnahme einer Beschäftigung) wie auch durch unterstützende Anreizprogramme wie die konsequente Zurücknahme von Leistungsansprüchen bei Verweigerung der Arbeitsaufnahme (z.B. Hilfe zur Arbeit nach BSHG) oder die Subventionierung von Arbeit im Niedriglohnsektor zu implementieren. Ein Vergleich der wohlfahrtsstaatlichen Restrukturierung und der damit einhergehenden Aktivierungsstrategien in anderen Ländern lässt ein einheitliches Grundmuster des aktivierenden Sozialstaates erkennen: Schritt für Schritt werden die sozialpolitischen Instrumente fürsorglicher Betreuung und Versorgung um Härteklauseln erweitert und arbeitsmarktpolitischen Kriterien untergeordnet. Parallel dazu findet ein Ausbau Druck ausübender, aufsichtsführender und kontrollierender sozialstaatlicher Funktionen statt (manchmal bis hin zum Einsatz sog. „Sozialdetektive"), die eine aktive „Anpassung" der vom Arbeitsmarkt ausgegrenzten an eben diesen befördern sollen. Einher geht dieser institutionelle Wandel der Sozialpolitik mit einer individualisierenden Philosophie der Ursachen sozialer Ausgrenzung: diese wird als Folge ungenügender Flexibilität und Anpassungsfähigkeit angesehen, dauerhafte Ausgrenzung wird damit zum positiven Einrichten in der sozialstaatlich konstruierten „Hängematte" uminterpretiert und Nichtanpassung an aktivierende Maßnahmen rechtfertigt in zunehmendem Maße staatlichen Zwang und Repression. Aktivierende Sozialstaatsstrategien sind deshalb strikt verhaltens- und kaum noch verhältnisorientiert. Individuelles Verhalten muss sich den Verhältnissen anpassen und im Zweifelsfall dementsprechend trainiert oder „dressiert" werden. Wie die Individuen sich den Verhältnissen unterordnen müssen, so die Sozialpolitik den Anforderungen des Arbeitsmarktes. Die Sozialpolitik des aktivierenden Sozialstaates steht im Verdacht - nicht zuletzt auf Grund des Schröder-Blair-Papiers - sich auf Arbeitsmarktpolitik zu reduzieren, deren alleiniges Ziel die „employability" der Hilfeempfänger ist.



2. Vom Wohlfahrtsstaat zum Arbeitszwang


Die Wende zum neuen workfare-Regime in der Bundesrepublik - die allerdings schon vor der Politik der „Neuen Mitte" auf den Weg gebracht wurde - lässt sich wie folgt rekonstruieren:

Durch die Neufassung des Arbeitsförderungsrechts im Sozialgesetzbuch III hat eine Gewichtsverschiebung stattgefunden: Der öffentliche Auftrag, dass "Arbeitslosigkeit und unterwertige Beschäftigung" durch die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung und die Maßnahmen der Bundesanstalt für Arbeit zu bekämpfen bzw. zu vermeiden seien (§ 2 i. V. m. § 3 AFG i. d. F. v. 20 4.1996) wurde im neuen SGB III ersetzt durch "die besondere Verantwortung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern" (§ 2 SGB III i. d. F. v. 1.2.2000). Hierbei heißt es dann u. a. für die Arbeitnehmer speziell : „Arbeitnehmer haben bei ihren Entscheidungen verantwortungsvoll deren Auswirkungen auf ihre beruflichen Möglichkeiten einzubeziehen. Sie sollen insbesondere ihre berufliche Leistungsfähigkeit den sich ändernden Anforderungen anpassen. Die Arbeitnehmer haben zur Vermeidung von Arbeitslosigkeit 1. jede zumutbare Möglichkeit bei der Suche und Aufnahme einer Beschäftigung zu nutzen, 2. ein Beschäftigungsverhältnis, dessen Fortsetzung ihnen zumutbar ist, nicht zu beenden, bevor sie eine neue Beschäftigung haben, und 3. jede zumutbare Beschäftigung anzunehmen" (§ 2 Abs. 2 u. 3 SGB III). Diese detaillierte Zuschreibung von verpflichtender Eigenverantwortung wurde durch eine gleichzeitige Verschärfung der Zumutbarkeitskriterien und durch die Rücknahme von Leistungen ergänzt (vgl. Rabe/Schmid 2000). Nach einem halben Jahr Arbeitslosigkeit ist nun z. B. jede Beschäftigung zumutbar, die unabhängig vom Berufsabschluss ein Nettoentgelt in Höhe des Arbeitslosengeldes einbringt. Wird eine solche Beschäftigung nicht angetreten oder eine zumutbare Arbeit eigenmächtig gekündigt, so verhängt die Arbeitsverwaltung von Amts sofort wegen eine sog. Sperrzeit, d. h. eine Reduktion des Arbeitslosengeldanspruchs um i. d. R. ein Viertel bzw. drei Monate der Gesamtlaufzeit. Ist dann Sozialhilfe erforderlich, wird auch diese "auf das zum Lebensunterhalt Unerlässliche eingeschränkt" (§ 25 Abs. 2 BSHG i. d. F. v. 25.6.1999), d. h. zumeist, eine Kürzung um 25% von bspw. 550 DM für den Alleinstehenden im Monat vorgenommen. Sowohl für das SGB III als auch das BSHG gilt in der letzten Konsequenz, dass eine andauernde Verweigerung des Antritts einer zumutbaren Arbeit zwangsläufig zum vollständigen Verlust von allen Geldleistungen zu führen hat (vgl. § 147 Abs. 1 SGB III; § 25 Abs. 1 BSHG), da hier der Gesetzgeber den Sozialbehörden keinerlei Ermessensspielraum einräumt.

Parallel hierzu hat sich auf kommunaler Ebene die Hilfe zur Arbeit nach dem Bundessozialhilfegesetz (§§ 18 ff. BSHG) zum Kernstück kommunaler Beschäftigungsförderung entwickelt. Sie unterteilt sich grob in zwei Beschäftigungsbereiche: Zum einen in die sog. Mehraufwandsentschädigungsvariante (Gemeinnützige Arbeit gem. § 19 Abs. 2, Satz 1, Alt. 2) sowie zum anderen in die zumeist befristeten Beschäftigungen mit arbeitsrechtlichem Schutz und Sozialversicherungsbeiträgen (§ 19 Abs. 1 u. § 19 Abs.2, Satz 1, Alt.1). In beiden Bereichen gilt grundsätzlich jede Arbeit als zumutbar; einen Qualifikations- und Berufsschutz hat es für die Sozialhilfebezieher/innen noch nie gegeben (vgl. Sonnenfeld 2000). Im Rahmen der Mehraufwandsentschädigungsvariante, die keine arbeitsrechtliche, sondern nur eine sozialrechtliche Justiziabilität hat, besteht die Möglichkeit, dass das Sozialamt durch Verwaltungsakt anordnen kann, für eine "Entschädigung" (i. d. R. 2 bis 3 DM pro Stunde zusätzlich zur Sozialhilfe) bspw. auf Sportplätzen und Friedhöfen, beim Gartenamt oder den Wohlfahrtsverbänden arbeiten zu lassen. In diesen Fällen handelt es sich weder um ein arbeitsvertraglich begründetes Arbeitsverhältnis noch werden Sozialversicherungsbeiträge entrichtet. Der Zwang zur Arbeit ist auch hier - wie oben schon erläutert - durch abgestufte Sozialhilfekürzungen bis hin zur völligen Einstellung der Leistungen administrativ und rechtlich abgesichert durchsetzbar. Im günstigsten Fall praktizieren die Kommunen die Mehraufwandsentschädigungsvariante als eine Art Vorschaltmaßnahme zu den sozialversicherungspflichtigen Tätigkeiten, im negativen Fall wird allen "arbeitsfähigen" Antragstellern in der Sozialhilfe von den Kommunen erst einmal eine Mehraufwands-Arbeit zugewiesen, was dann bei fehlenden Anschlussperspektiven "erwünschte Abschreckungseffekte" erzielen kann.



3. Das Hartz-Konzept: Strategiewechsel in der Arbeitsmarktpolitik



Bevor ich auf das Hartz-Konzept zu sprechen komme, ganz kurz resümierend eine Fakten zur gegenwärtigen Arbeitsmarktsituation:

Fakt I: Das Arbeitsplatzdefizit in der Bundesrepublik liegt derzeit bei ca. 6 Millionen Stellen, wovon etwa 4 Millionen als registrierte Arbeitslosigkeit erfasst wird, während der Rest auf die statistische Dunkelziffer entfällt, z.B. auf Personen in Maßnahmen des Arbeitsamtes. Auf Sicht wird das Arbeitsplatzdefizit - so die Prognosen - dauerhaft noch etwas über drei Millionen Stellen betragen, was mit der systemstrukturellen Arbeitslosigkeit einerseits und mit der Abnahme der erwerbsfähigen Bevölkerung durch die demographische Entwicklung andererseits zusammenhängt.

Fakt II: Über ein Drittel aller registrierten Arbeitslosen sind inzwischen Langzeitarbeitslose, wobei von diesen bereits noch einmal die Hälfte seit über zwei Jahren vielfach irreversibel vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen ist. Trotz leichtem Abbau der Arbeitslosigkeit am allgemeinen Arbeitsmarkt im letzten Jahr, ist gegenläufig hierzu der Anteil der Langzeit- und der Dauerarbeitslosen noch weiter angestiegen.

Fakt III: Das Arbeitsvolumen in unserer Volkswirtschaft hat in der Vergangenheit immer weiter abgenommen (allein zwischen 1991 und 1997 um 7%), was letztlich u.a. mit dem Megatrend immer höherer Produktivität zu tun hat, die dazu führte, dass seit Beginn der Massenarbeitslosigkeit (1973) der Wert der pro Kopf erwirtschafteten Güter bzw. Dienstleistungen um annähernd 50% angestiegen ist. Die jetzt neuerdings zu beobachtende Zunahme des Arbeitsvolumens (zwischen 1997 und 2000 um 3%) ist allerdings in der Entwicklung extrem gespalten: Während das Vollzeitvolumen um 8% sank, stieg das Teilzeitvolumen im gleichen Zeitraum um 38% an.

Fakt IV: Prekäre Beschäftigungsverhältnisse nehmen rasch zu: Das sog. Normalarbeitsverhältnis (unbefristete Vollzeitbeschäftigung mit durchschnittlichem Einkommen) ist nicht mehr der Normalfall. Anfang der 70er Jahre kamen auf einen Nicht-Normbeschäftigten noch fünf Arbeitnehmer in Normalarbeitsverhältnissen. Mitte der 90er Jahre ist dieses Verhältnis nur noch eins zu zwei, und in 15 Jahren müsste man bei Fortschreibung der Entwicklung von einem Verhältnis von eins zu eins ausgehen (so die Kommission für Zukunftsfragen 1996). Eine tiefe Spaltung der Beschäftigungsformen geht mit dieser Entwicklung einher.



In der Arbeitsmarktpolitik der Bundesrepublik ist derzeit ein grundlegender Strategiewechsel im Gange, der durch das sog. Hartz-Papier eingeleitet wurde, zu dessen Umsetzung das Erste und das Zweite Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt zum Jahresende 2002 beschlossen wurden. Die jetzt beschlossenen Neuregelungen betreffen im Wesentlichen die folgenden Punkte:

Schaffung von Personal-Service-Agenturen (PSA) und Verpflichtung zur Leiharbeit

Schaffung von Voraussetzungen für die Einrichtung von sog. JobCentern (Sozialdatenabgleich)

Leistungskürzungen im Bereich der Arbeitslosenhilfe, des Arbeitslosengeldes und des Unterhaltsgeldes

Verschärfung der Zumutbarkeitsregeln

Einrichtung von sog. Ich- bzw. Familen-AG's

Ersatz von Qualifizierungsmaßnahmen durch die Einführung von Bildungsgutscheinen

Erleichterungen für geringfügige Beschäftigungsverhältnisse

Förderung der Beschäftigung von älteren Arbeitslosen



Interessant und beachtenswert für die Einschätzung des Gesamttenors der Reform ist - wenn man sich das ursprüngliche Hartz-Konzept noch einmal genau ansieht - dass jene Module, die mit Verpflichtungen für Unternehmen und den Staat verbunden gewesen wären, in den Umsetzungsgesetzen nicht zu finden sind. Insbesondere sind dies

eine verbindliche Verpflichtung der Betriebe zur Aufstellung und Veröffentlichung einer Beschäftigungsbilanz, aus der die Einstellungen und Entlassungen hervorgegangen wären (vgl. Hartz u.a. 2002, S. 142 ff.)

die Festlegung eines regelgebundenen Finanzschusses des Bundes zur Bundesanstalt für Arbeit, um insbesondere die Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik konjunkturunabhängig auf eine solide Basis zu stellen (vgl. Hartz u.a. 2002, S. 61 u. 214 ff.)

Auflage von kommunalen Infrastrukturprogrammen zur zusätzlichen Schaffung von Arbeitsplätzen durch öffentliche Investitionen ( vgl. Hartz u.a. 2002, S. 250 ff., S. 268 ff.)

Betrachtet man die Folgewirkungen des Hartz-Gesetzes, so lässt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt folgendes feststellen:

Mit Inkrafttreten der Neuregelung sollen Einsparungen der Arbeitslosenhilfe in Höhe von 2,5 Mrd. Euro gegenüber dem Vorjahr erreicht werden. Diese Einsparungen werden durch verschärfte Vermögens- und Einkommensanrechnung, Leistungskürzungen bei Weiterbildungsmaßnahmen, Einsparungen bei Krankenversicherungsbeiträgen u.a.m. erreicht. Die Bundesanstalt für Arbeit soll im Jahr 2003 und möglichst auch in den folgenden Jahren trotz steigender Arbeitslosigkeit ohne einen Zuschuss aus dem Bundeshaushalt auskommen. Der Zwang zu weiteren Einsparungen wird im wesentlichen durch den Bereich der aktiven Arbeitsmarktpolitik umgelegt, da der Kostenblock der passiven Leistungen kurzfristig nur begrenzt eingeschränkt werden kann.

Aus einer ausschließlich monetären Perspektive heraus sind für die Bundesanstalt alle Leistungen unattraktiv, die

- auf Personen mit einem oder mehreren Beschäftigungshemmnissen (Alter, Behinderung, geringe Qualifikation, Sucht etc.) entfallen;

- auf Personen mit geringen Arbeitslosengeldansprüchen („billige" Arbeitslose) entfallen;

- einen neuen Anspruch auf Arbeitslosengeld begründen.



Dieses Kalkül führt zu einem konsequenten Politikwechsel der Bundesanstalt, der ein radikales Umsteuern der Arbeitsmarktförderungspolitik mit drastischen Folgen erkennen lässt:

a) Abbau der Qualifizierungsangebote für Schwervermittelbare

Schon Ende 2002 hat die BA in einer Geschäftsanweisung vorgegeben, dass die Zulassung von Trainingsmaßnahmen nur für Bildungsziele mit einer prognostizierten Erfolgsquote von mindestens 70% erfolgen soll. Auch soll die Dauer der Maßnahmen auf eine Verkürzungsmöglichkeit hin geprüft werden. Dies führt unmittelbar zum Abbau der Angebotsseite gerade für die benachteiligten und schwervermittelbaren Personenkreise. Die Vermittlungsvorgabe macht es den Trägern von Weiterbildungseinrichtungen zunehmend unmöglich, weiterhin eine Struktur für diese Problemgruppen vorzuhalten.

b) Keine ABM für Arbeitslosenhilfeempfänger und zeitliche Beschränkung der ABM

In fast allen der 181 Arbeitsamtsbezirken ist es inzwischen zu einem massiven Abbau der Arbeitsbeschaffungs- und Strukturanpassungsmaßnahmen (ABM / SAM) gekommen, der zwischen 60 und 90 Prozent der Förderfälle des Vorjahres liegt, obwohl bereits im Jahr 2002 die Mittel hierfür erheblich gekürzt worden sind. Die Folge ist ein weitgehender Zusammenbruch der Infrastruktur des Zweiten Arbeitsmarktes. Da Leiharbeit und „Ich-AG's" für diese Personengruppe de facto keine Optionen sind, wird es zur weiteren Verhärtung von Dauerarbeitslosigkeit kommen, während zugleich die institutionellen Auffangsysteme (Beschäftigungsträger etc.) irreversibel zerstört worden sind.

c) Vorrangige Vermittlung „teurer" Arbeitsloser

In einer aktuellen Weisung des Landesarbeitsamtes Niedersachsen an die 22 Arbeitsämter des Landesarbeitsamtsbezirks heißt es: „ Bei den Überlegungen zur Integration sollte die individuelle Höhe der Arbeitslosengeldzahlung beachtet werden".

d) Zurückführen der Wiedereingliederungshilfen

Eine Umfrage bei 15 Einrichtungen des DW in NRW hat ergeben, dass keine Neuanträge auf Eingliederungshilfen für Schwerbehinderte (Arbeitgeberzuschüsse) mehr bewilligt werden. Es liegen außerdem Aussagen aus Arbeitsämtern vor, dass auch bei Leistungen zur beruflichen Rehabilitation nach SGB III (z.B. Eingliederungshilfen für Langzeitarbeitslose) Mittelkürzungen von bis zu 80% vorgenommen werden.

e) Keine berufsvorbereitenden Lehrgänge für Jugendliche außerhalb des Leistungsbezugs

Dies hat zur Folge, dass immer mehr Jugendliche, die nicht über die individuellen Voraussetzungen verfügen, aus eigener Kraft einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz zu finden, langfristig auf Sozialhilfe/Jugendhilfe angewiesen sind und Gefahr laufen, dauerhaft ohne Chance auf dem ersten Arbeitsmarkt zu sein.

f) Keine Kofinanzierung von Werkstattplätzen für Schwerbehinderte

Die BA beteiligt sich nicht mehr wie bisher an den Investitionskosten für die Einrichtung von Werkstätten für Schwerbehinderte durch Gewährung von Darlehen in Höhe von 10% der Aufwendungen. Damit können bundesweit über 100 Werkstattprojekte mit rd. 8000 Plätzen, deren Aufbau die Träger und die BA 2002 einvernehmlich vereinbart hatten, nicht verwirklicht werden.

g) Rückzug aus der investiven Förderung der Berufsbildungs- und Berufsförderungswerke

Die von Bund und Ländern gemeinsam mit den Rehabilitationsträgern errichteten Berufsbildungs- und Berufsförderungswerke sind Leiteinrichtungen zur beruflichen Rehabilitation von Menschen mit Behinderungen in der Bundesrepublik. Ein Ausstieg der BA würde die weitere institutionelle Förderung der Berufsbildungswerke insgesamt in Frage stellen.

h) Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe- und Sozialhilfe

Die bisherige Arbeitslosenhilfe wird auf dem Niveau der heutigen Sozialhilfe zum neuen ALG II. Leistungsberechtigt sind alle arbeitslosen und dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehenden Personen mit ihren Haushaltsangehörigen. Insgesamt, so wird geschätzt, werden ca. 4,3 Mio. Personen in 2,1 Mio. Haushalten diese Leistung erhalten. Zuständig sind die Job-Center, Leistungsträger ist die Bundesanstalt für Arbeit. Der Bund spart 4,7 Milliarden Euro jährlich bei der Arbeitslosenhilfe. Er muss ca. 1,6 Milliarden Euro jährlich für die Arbeitslosen mehr ausgeben, die bisher weder Anspruch auf Arbeitslosengeld noch auf Arbeitslosenhilfe hatten.

Damit werden die Leistungen der Sozialhilfeträger erheblich eingeschränkt, was den Charakter eines Systemwechsels in sich trägt. Für die nicht-staatlichen Träger bedeutet das z.B., dass der § 10 BSHG im Feld aller Leistungen, die etwas mit Arbeitsmarktintegration zu tun haben (möglicherweise auch Schuldnerberatungsstellen u.ä.) keine Grundlage mehr hat. Die Angebote zur Beratung frei-gemeinnütziger Träger werden in Zukunft überwiegend nicht mehr vom Sozialamt, sondern vom Job-Center nach Ausschreibung (VOL) vergeben.



Betrachtet man die empirische Seite des Umsetzungsprozesses, so lässt sich gegenwärtig folgendes beobachten:

Beispiel Bochum: ABM wird von 12,1 Millionen auf 8,6 Millionen zurückgefahren. Das betrifft den Arbeitsamtsbezirk Bochum. Das Budget hängt von der Mittelzuteilung des Eingliederungstitels in der Gesamtheit ab. Das AA Bochum hat z.B. 75,1 Millionen Euro für die aktive Arbeitsmarktförderung bekommen und die Leistungen zur aktiven Arbeitsmarktförderung umfassen 19 Zweckbestimmungen. Eine davon ist ABM, die größte ist die Förderung der beruflichen Weiterbildung (FBW), da sind so rund 40 Millionen eingestellt. Da ist das AA jetzt im Ansatz um 2 Millionen Euro runtergegangen. Weil das AA insgesamt 5 Mill. Euro für die gesamten 19 Zweckbestimmungen weniger bekommen hat, im letzten Jahr lagen es noch bei knapp 80 Millionen und jetzt bei 75 Millionen. Aber auch die Zahl ist nicht realistisch. Die 5 Millionen weniger gegenüber 2002 ist nicht realistisch. Bis 2002 gab es noch das Förderprogramm Beschäftigung für Langzeitarbeitslose. Rund 2,6 Millionen Euro. Das ist ersatzlos ausgelaufen. Dieses muss letztlich auch über die Leistungen der aktiven Arbeitsmarktförderung kompensiert werden. In Form von anderen Leistungen. Das AA muss also die Klientel, die früher über das Programm Beschäftigung für Langzeitarbeitslose bedient wurde, jetzt auch noch aus diesem Topf bedienen, so dass der Mittelansatz nicht nur um 5 Millionen im Grunde zurückgegangen ist, sondern um fast 8 Millionen. Und hinzugekommen sind die neuen Leistungen, die im letzten Jahr auch noch nicht im Eingliederungstitel waren, für die Personalserviceagenturen.

Ähnliche Folgen des Hartz-Konzeptes zeichnen sich bereits für den Bildungs- und Qualifizierungssektor ab, da mit den Mittelkürzungen für diese Maßnahmen und mit der Einführung von Bildungsgutscheinen eine Konzentrationstendenz unaufhaltsam sein wird. Nur noch die großen Träger (und zwar die finanzstarken, nicht unbedingt die leistungsstarken) werden in der Lage sein, die im Eingliederungstitel für Qualifizierungsmaßnahmen vorgesehenen Einbußen zu kompensieren und zugleich ihre Angebote durch Marketing den Betroffenen soweit bekannt zu machen, dass diese wissen, wo denn überhaupt ein Bildungsgutschein einzulösen ist. Bei den erforderlichen Übergangsquoten von 70% gibt es nicht mehr - wie bisher - eine zielgruppenspezifische Quote (z.B. für Berufsrückkehrerinnen: 50%); die Zielgruppendefinition und zielgruppenspezifische Maßnahmen wurden generell aufgehoben. Des gleichen die sozialpädagogische Betreuung. Die Vermittlungsquote wird gemessen am Zeitraum 6 Monate (in diesem Zeitraum muss für mind. 7 Tage Beschäftigung nachgewiesen werden). Ziel ist eine Bereinigung der Trägerlandschaft. In Dortmund und Umgebung haben bereits jetzt namhafte Träger bis zu 80% der Klientel verloren. Im Kreis Unna ist ausgerechnet worden, dass 1000 Schulungsplätze (Umschulung- und Weiterbildungsmaßnahmen) wegfallen, d.h. Anstieg der Arbeitslosenzahlen in diesem Umfang allein durch die Streichungen.



Die Beauftragung von PersonalServiceAgenturen durch die Arbeitsämter konzentriert sich vielfach bereits auf den Personenkreis der „leicht" Vermittelbaren (in NRW z.B. auf die Kategorien A und B, während C-E unberücksichtigt bleiben), da die geschäftspolitische Vorgabe der Bundesanstalt insgesamt für 2003 eine Verkürzung der durchschnittlichen Arbeitslosigkeit von 55 Wochen auf 54 Wochen vorgesehen hat (Einsparung ca. 1,6 Mrd. _), sodass es auch hier zu massiven Selektionseffekten kommen wird. Insbesondere beeinträchtigte Arbeitslose sind „uninteressant" für die PSA-Arbeit, da sie ein hohes „Kostenrisiko" bedeuten, wenn sie sich als „nicht verleihbar" erweisen sollten.



Beispiel Bochum: Es ist vorgesehen, im Arbeitsamtsbezirk Bochum, dass in Bochum 2 PSA einrichten wollen, die jeweils 35 Arbeitslose bekommen oder 35 gemeldete Kunden ( es müssen keine Arbeitslosen sein). Es sollten in der Regel Arbeitslose sein, weil sie mit der Vermittlung in die PSA - also beim Übergang vom AA in die PSA - keine Leistungsempfänger mehr sind, keine Arbeitslosengeldbezieher, womit dann zumindest optisch-kosmetisch die Reduzierung der Arbeitslosengeldbezugszeiten im Konzert aller um eine Woche realisiert werden könnte.

Und die Personen, die in die PSA übergehen, schließen mit dieser PSA einen Arbeitsvertrag und bekommen auch von der PSA ihr Gehalt. Die müssen zu tariflichen Bedingungen eingestellt werden, die noch neu verhandelt werden. Und das AA bezuschusst die PSA aus dem Eingliederungstitel mit einem Betrag, der im Rahmen des Vergabeverfahrens und der Auslese aus dem Vergabeverfahren, aus den Angeboten dann der wirtschaftlichste ist. Es werden Angebote im Vergabeverfahren eingereicht, die PSA werden ausgeschrieben, die Interessenten können sich bewerben, können ein Angebot abgeben und dann wird gewichtet, sowohl preislich als auch fachlich-inhaltlich, welcher PSA-Betreiber Arbeitgeber für die jeweils 35 Arbeitnehmer wird. Und angenommen die PSA sagt, wir brauchen pro Arbeitnehmer, den ihr in unsere PSA überstellt, rechnet die Arbeitsverwaltung mit einem Grundbetrag von 8oo Euro im Monat, denn wenn die PSA, deren Aufgabe es ja ist, die überstellten Arbeitnehmer, mit denen sie Arbeitsverträge abschließen wieder zu vermitteln, an potentielle Arbeitgeber, wenn das nicht klappt, hat die PSA die Kunden, an der Backe. Und muss die bezahlen. Und weil man das auch weiß und weil da ein Aufwand dahintersteht würde die BA dann pro Monat pro Arbeitnehmer einen Betrag X, 800 Euro vielleicht, an die PSA zahlen. Also wenn die 35 Leute nehmen und man geht von 1000 Euro aus, kosten diese 35 Leute in einer PSA 35000 Euro pro Monat. Wenn die PSA diese Personen rasch vermittelt, dann erhält sie zusätzlich eine Vermittlungsprämie, eine Erfolgsprämie, die je nach Schnelligkeit der Vermittlung gestaffelt ist. Nimmt man an innerhalb des 1. Monats wird ein Arbeitnehmer von der PSA vermittelt, dann bekommt die PSA einmal diesen Grundbetrag von 1000 Euro für diese Person und 200% des Grundbetrages als Prämie, 2000 Euro. Auch aus dem Eingliederungstitel. Aus dem geminderten Eingliederungstitel, der jetzt schon bei 75 Millionen Euro liegt. Und insofern wird auch die Bewirtschaftung des Eingliederungstitels immer schwieriger und die Mittel, die für diese neuen Instrumente benötigt werden, müssen kompensiert werden. Das beste wäre im Grunde, das AA Bochum würde seine 30000 Arbeitslosen, 20000 Arbeitslosengeldempfänger komplett in PSA überstellen. Dann hätte das AA Bochum kosmetisch keine Arbeitslosen.



4. Selektion nach Erwerbsfähigkeit als Leitidee aktivierender Arbeitsmarktpolitik

Der Personenkreis der Schwervermittelbaren und Langzeitarbeitslosen sieht sich angesichts dieser Entwicklungen einer doppelten Ausgrenzung ausgesetzt: Zum einen wird er immer weniger bei den verbliebenen Förderinstrumenten des SGB III Berücksichtigung finden, was ausdrücklich nicht ausschließt, dass (repressive) Forderungen, d. h. zum Beispiel Arbeitserprobungen mit Selektion der „Nicht-Erwerbsfähigen", gezielt bei dieser Gruppe fokussiert werden. Hiervon verspricht man sich „statistische Bereinigungen", die in einzelnen Arbeitsämtern schon mit Quoten von bis zu 30 Prozent bei den Schwervermittelbaren in geschäftspolitische Kalkulationen eingehen, was natürlich der allgemeinen Vorgabe der Senkung der durchschnittlichen Dauer der Arbeitslosigkeit (s.o.) letztlich „sehr zustatten" käme. Andererseits sieht sich die Gruppe der Langzeitarbeitslosen und Schwervermittelbaren inzwischen vermehrt auch auf der kommunalen Seite Ausgrenzungstendenzen gegenüber, da die lokale Beschäftigungspolitik vielerorts sowohl angesichts von Haushaltskrisen als auch angesichts der geplanten Zuständigkeit der Arbeitsämter speziell für die arbeitslosen Sozialhilfeempfänger aktuell immer mehr eingeschränkt bzw. sogar teilweise völlig eingestellt wird.

Es ist zu erwarten, dass über die Kriterien „Erwerbsfähigkeit" und „Arbeitsmarktnähe" Problemgruppen wieder aus dem Zuständigkeitsbereich der Arbeitsverwaltung hinausdefiniert werden. Das im Rahmen des JobAQtiv-Gesetzes eingeführte Profiling kann sich hier als neuartiges Selektionsinstrument erweisen, je nachdem welche Kriterien für die Kennzeichnung der Erwerbsfähigkeit herangezogen werden.



5. Der strafende Staat - die häufig vergessene Seite aktivierender Staatlichkeit

Abschließend möchte ich noch kurz auf einen anderen Aspekt aktivierender Sozialstaatlichkeit verweisen, der in der öffentlichen Diskussion häufig unterschlagen wird.

Unter der Bezeichnung „Innere Sicherheit" wird parallel zur runderneuerten Arbeitsmarktpolitik eine neue Ordnungspolitik betrieben, die von Anfang an auch konstitutiver Bestandteil der Politik des Dritten Weges ist. Es ist kein Zufall, dass eine ansonsten eher konservative Programmatiken kennzeichnende „Politik der Härte" in allen neuen sozialdemokratischen Reformkonzepten von Clinton, Blair bis Otto Schily eine prominente Rolle zukommt. Der aktivierende Staat will nicht nur sozialpolitische und wirtschaftspolitische Gestaltungsfunktionen ausüben, er entdeckt sich auch neu als „starker Staat", als Ordnungsstaat, der sich nicht nur durch autoritative Sozialpolitik kennzeichnet, sondern ein neues, ressortübergreifendes Konzept sozialer Ordnung entwickelt und implementiert, das soziale Ordnung als sichere Ordnung begreift (vgl. Legnaro 1997).

Die Idee „sozialer, sicherer Ordnung" im Konzept des aktivierenden Staates ist eng mit der workfare-Politik gekoppelt. Workfare-Politik ist in den USA nicht zuletzt als Bestandteil einer konservativen Politik durchsetzbar gewesen, die schon vor der Kommunitarismus-Debatte forderte, dass es notwendig sei, das Verhältnis individueller Rechte und Pflichten neu auszubalancieren. Lawrence M. Mead (1986) hatte im Rahmen seiner Sozialstaatskritik angesichts der aus seiner Sicht wirkungslosen Sozialprogramme die Wende von einer - wie er es nannte - liberal tolerierenden („permissive") Sozialpolitik hin zu einer „autoritativen" Sozialpolitik gefordert, die sozialpolitische Leistungen an Gegenleistungen koppeln soll, darüber hinaus aber auch Potenziale entfalten kann „to set norms for the public functioning of citizens"; nach Mead ist die Durchsetzung einer Politik der Verpflichtung („obligations") nur mittels einer Mischung aus Unterstützung und Führung der sozial Schwachen durchsetzbar und die Lösung der Probleme des Wohlfahrtsstaates ist demnach vor allem eine Frage der Autorität. Selbstverantwortung entsteht nicht aus dem Nichts, sondern muss durch Aktivierung und die Vermittlung von Kompetenzen gefördert werden (vgl. Mead 1986, S. 6).

Im Rahmen dieser Entwicklung zeichnet sich insbesondere eine Aufwertung kontrollierender und repressiver Elemente staatlicher wie sozialstaatlicher Interventionen ab, in deren Folge sich die Konturen einer „Sicherheitsgesellschaft" (Legnaro 1997), die Prävention als soziale Kontrolle und Disziplinierung organisiert, abzeichnen, die auch eine „Renaissance des Zwangs" (Nickolai/Reindl 1999) mit sich bringt. Unter Stichworten wie „strafender Staat", „Innere Sicherheit", „Kontrollgesellschaft", „Sicherheitsgesellschaft" u.ä. werden verstärkt Merkmale einer Politik diskutiert, die nicht wie dies bislang in der öffentlichen Diskussion zu hören war, gesellschaftliche Werte wiederbeleben will, auf die geistig moralische Wende setzt oder auf den Ruck, der durch die Gesellschaft gehen soll, wartet; die neue Politik der Härte setzt „aktiv" Anpassung an gesellschaftliche Normen durch (Wacquant 1997, Hess 1999). Die „Wiederkehr des Leviathan" ist von der Kriminal- und Präventionspolitik, über die Arbeitsmarktpolitik, bis hin zur Sozialpolitik und Jugendarbeit (und hier nicht nur in der Arbeit mit Hooligans und Neonazis) beobachtbar und es scheint so, als würde der starke Staat in einer durchökonomisierten Gesellschaft seine Politik der Härte auf noch mehr Bereiche staatlichen Handelns ausdehnen und abweichendes Verhalten, da wo es auftritt, so rigoros zurückdrängen wie schon im Bereich Obdachloser und Bettler, die zunehmend Zielgruppen innerstädtischer ordnungspolitischer Maßnahmen werden (vgl. Höfling 2000), weil sie zum Sicherheitsrisiko erklärt werden.

Wenn man die gegenwärtig besonders in der Sozialdemokratie geführte Debatte über den aktivierenden Staat und die neue Eigenverantwortlichkeit wie Ulrich Beck als lediglich „neoliberale Variante der Zivilgesellschaft" (Beck 2000) betrachtet, greift das entschieden zu kurz; denn die Sozialdemokratie in der Bundesrepublik - und darin ist sie sich mit New Labour einig - will nicht nur zur Eigenverantwortung ermuntern und die Selbstorganisation unterstützen; das Konzept des aktivierenden Staates hat auch eine neue Sozialstaatlichkeit zum Ziel; eine die nicht nur neoliberal mittels ökonomischer Anreize steuert, sondern ergänzend auch auf paternalistische und repressive Mittel setzt, wie den Arbeitsdruck und -zwang, den Einsatz sozialer Kontroll- und Überwachungsinstrumente zur Produktion von Sicherheit sowie letztlich auch auf Straf- und Disziplinierungsinstrumente zur (Wieder)Herstellung von „employability" und „Gemeinschaft", wenn Bereitschaft zur Arbeitsaufnahme nicht zu erkennen ist oder Gemeinschaften allzu sehr auf die „abschüssige Bahn" geraten.

Eine Politik der Härte in einem aktivierenden Staat beinhaltet in letzter Konsequenz also das, die Kommunitaristen die „schützende und strafende Hand des Staates" (Etzioni 1998, S. 225) nennen, die dann zum Einsatz kommt, wenn die „Gemeinschaft" vor dem „harten Kern von Psychopathen und Kriminellen" geschützt werden muss, „den auch die engagiertesten Eltern, die besten Schulen und fürsorglichsten Nachbarn nicht erreichen können." (Etzioni 1998, 224 - 245). Da dieser Kern wahrscheinlich auch nicht durch sozialpädagogische Professionelle zu erreichen und zu bessern sein wird und scheinbar nur noch „wegsperren" hilft - so könnte man die Ansichten Etzionis zu Ende denken - , muss man sich im Rahmen der Organisation von Hilfe auch von Konzepten wie Freiwilligkeit, gelingendes Leben, Akzeptanz und ähnlichen sozialpädagogisch abgeleitetem und begründeten Handlungsprinzipien verabschieden. Die vom aktivierenden Staat vertretene Neudefinition von Gleichheit (d.h. die Verabschiedung vom alten sozialstaatliche Ziel einer „Ex-post-Gleichheit der materiellen Verteilung durch sozialstaatliche Transfers" und Ersetzung durch das Ziel der „Gewährleistung einer Ex-ante-Gleichheit der Lebenschancen", SPD-Grundwertekommission 2001, S. 285) kommt auch in der neuen „Politik der Härte" schon voll zum Tragen. Wer Angebote des Aktivierers (Arbeitsaufnahme, sozialkonformes Verhalten in der Öffentlichkeit u.ä.) nicht nachkommt, sie scheinbar ausschlägt, hat seine Chance vertan und kann Gleichbehandlung nicht mehr erwarten, sondern muss mit Ausschluss von Leistungen als Bestrafung rechnen. In der Dialektik der Politik des Forderns und Förderns ist angelegt, dass abweichendes gesellschaftliches Verhalten zunehmend als gesellschaftsschädigend angesehen werden soll und damit nicht nur der Staat und die Polizei , sondern - wie sich gegenwärtig in England besichtigen lässt - die Zivilgesellschaft und ihre Institutionen aufgefordert sind, derartiges Verhalten zu unterbinden. Die Verbindung von Arbeitszwang mit einem neuen Autoritarismus, der unter dem hehren Titel „Gemeinschaft" oder „Allgemeinwohl" jegliche Form des Tugendterrors für gerechtfertigt hält, wird - so steht zu befürchten, auch durch die Hartz-Diskussion einen neuen Aufschwung nehmen.


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