Rede am 10.03.2003 zum 60-sten Jahrestag der Deportation von Sinti und Roma

von Lutz Berger, VVN – BdA Bochum

 

 

In den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts kamen sie zu uns ins Ruhrgebiet:

Sinti und Roma suchten hier Arbeit und ein Zuhause.

Es kamen die Familien Bern, Laubinger, Pfaus, Reinhard, Rosenberg, Georges, Groß, Weiß, Atsch, Mettbach, Lagerin, Unger, Delies, Steinbach, Meinhard.

Großfamilien waren es, mehrere Generationen lebten zusammen,

Im Jahre 1930 wollten mehrere Familien an der Feldsieperstr. heimisch werden und hatten sich deshalb einen Platz bei dem Zimmermann Janzen gemietet. Dieser hatte neben den „Zigeunerwagen“ auch noch einige feste Baracken gebaut, ein Zeichen dafür, dass die Sintifamilien sich hier fest ansiedeln wollten.

Doch der katholische Elternverein der neben dem Platz befindlichen Schule sah die Moral der Schüler gefährdet, das fremdartige Aussehen und die andere Lebensweise (so genau wusste man das alles noch gar nicht) genügten, um die „Zigeuner“ mit Hilfe des Gerichts wieder davonzujagen.

Dennoch, einigen Sinti- und Romafamilien gelang es, in normale Wohnungen einzuziehen, normale Berufe zu ergreifen.

Johann Rosenberg hatte ein Fuhrgeschäft gegründet und beschäftigte darin seine Söhne und Töchter, andere arbeiteten im Bergbau oder in der Stahlindustrie, einige lebten als Musiker oder als Artisten. Wirklich anerkannt und geachtet waren sie aber nicht.

Als dann 1933 das 1000jährige Reich begann, wurden Sinti und Roma aber ähnlich wie die Juden immer stärker ausgegrenzt. Das Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes verbot Beziehungen zu reinrassigen Deutschen, Aufgrund des  Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses wurden Sinti und Roma zwangssterilisiert. Die Ärzte im Gesundheitsamt hatten hier ein Ziel, dass sie mit großer Begeisterung gewissenhaft gewissenlos verfolgen konnten.

Im November 1936 sagte Dr. Robert Ritter, der Leiter der rassenhygienischen Forschungsstelle, die mit der Lösung der Zigeunerfrage beauftragt war: Die Zigeunerfrage kann erst dann als gelöst betrachtet werden, wenn die Mehrzahl der asozialen und nutzlosen Zigeunermischlinge in großen Lagern zusammengefasst und zur Arbeit angehalten wird, und wenn die andauernde Fortpflanzung dieser Mischbevölkerung entgültig unterbunden ist. Erst dann werden die zukünftigen Generationen des Deutschen Volkes von dieser Bürde befreit sein.

!938 erfolgte der Erlass zur Bekämpfung der Zigeunerplage; die Regelung der Zigeunerfrage sollte danach aus dem Wesen der Rasse heraus in Angriff genommen werden.

Sinti und Roma wurden in vielen Städten in Zigeunerlager zusammengefasst, kontrolliert und ständig von der Polizei schikaniert. In Bochum kamen viele Familien in den Obdachlosensiedlungen unter, von denen im Verwaltungsbericht der Stadt gesagt wurde, dass sie aus sozialen und hygienischen Gründen grundsätzlich nicht mehr benutzt werden und nur im äußersten Fällen zur Aufnahme asozialer Familien dienen. In Wattenscheid wurden sie in ein Lager an der Dahlhauserstr. zusammengepfercht. Trotzdem konnten einige Familien noch in ihren Wohnungen bleiben. Sie wurden festgeschrieben, d.h. sie durften die Stadt ohne Erlaubnis der Polizei nicht verlassen.

Immer wieder wurden einzelne Sinti oder Roma verhaftet und begannen eine lange Odyssee durch verschiedene Konzentrationslager.

Am 10. März 1943, heute vor 60 Jahren wurden die Sinti und Roma aus Bochum und den von der Bochumer Polizei kontrollierten Nachbarstädten frühmorgens von der Polizei aus den Betten getrieben und zum Nordbahnhof gebracht. Dort stand ein Zug mit Viehwaggons, in die sie hineingetrieben wurden. Der Zug ging nach Auschwitz. Dort war in dem Vernichtungslager ein „Zigeunerfamilienlager“ errichtet worden. Rosa Frosch, geborene Atsch, eine der wenigen Überlebenden der Hölle von Auschwitz, schildert später, dass ihr die kleinen Kinder bei der Ankunft aus den Armen gerissen wurden, sie kamen zum „duschen“, d. h. in die Gaskammer, denn sie waren ja noch nutzlos.

Auschwitz überlebt haben nur wenige Sinti und Roma, nur die, die als arbeitsfähig in andere Konzentrationslager transportiert wurden. Und die dann noch das Glück hatten, diese Lager zu überleben. Die anderen schufteten und hungerten sich tot, wurden Opfer unmenschlicher medizinischer Experimente oder wurden ermordet. Am 2. August 1944 wurden Transporte mit 1408 arbeitsfähigen in andere Konzentrationslager geschickt, nach dem Lagerappell wurden die verbliebenen 2897 Sinti und Roma nach heftigem Widerstand zum Krematorium gebracht, ermordet und verbrannt.

Nach der Befreiung wurden Sinti und Roma auch weiterhin diskriminiert. Prozesse um Entschädigungszahlungen gingen meist bis in die 70er Jahre, für die geringe Entschädigung von 150 DM je Monat Freiheitsberaubung im Konzentrationslager. Die wurde meist auch noch von der Stadt gegen erhaltene Sozialleistungen verrechnet.

Bis 1966 stellen Gerichte fest, dass „die Verfolgung der Zigeuner aus Gründen der Rasse erst nach dem sogenannten Auschwitzerlass am 1.3.1943 einsetzte“. Verfolgungszeiten vor diesem Datum wurden anderen, d.h. kriminellen Gründen zugesprochen.

Bis in die 70er Jahre hatten die deutschen Sinti und Roma nur Fremdenpässe, weil ihre Staatsangehörigkeit ungeklärt war. Damit hatten sie auch wesentlich geringere Chancen bei der Arbeitssuche.

Die Roma, die heute in den ehemals sozialistischen Staaten verfolgt und diskriminiert werden und deshalb zu uns kommen, werden von den Behörden schikaniert und sollen in ihre angeblich sicheren Heimatländer zurückgeschoben werden.

Wir gedenken hier und heute der Zwangsarbeiter, die von den Nationalsozialisten aus Ihren Heimatländern verschleppt wurden, die hier in unserer Stadt Zwangsarbeit leisten mussten und die dabei hier den Tod fanden.

Heute gedenken wir auch der Sinti und Roma, die vor 60 Jahren nach Auschwitz transportiert worden sind. Für sie gibt es keinen Ort des Gedenkens. Die Erinnerung an sie ist fast ausgelöscht, so wie ihre Familien auch ausgelöscht worden sind.

Es gibt kein Denkmal, keine Dokumentationsstätte, nichts was an das Grauen der Nazizeit erinnert. Dieses Verdrängen ist auch schuld daran, wenn heute wieder die Neofaschisten marschieren.

Wir müssen alles tun, damit sich dieses Grauen nie wiederholt. Wir müssen uns einsetzen für alle Menschen, die in unserem Land diskriminiert werden, ganz gleich, ob Flüchtlinge, Juden oder Sinti und Roma.  Und wir müssen uns dagegen wehren, dass ewiggestrige versuchen, das Rad der Geschichte wieder zurückzudrehen.

Der Schwur von Buchenwald ist immer noch aktuell: Nie wieder Krieg, Nie wieder Faschismus.