Bagdad brennt – Lasst uns den Protest in Widerstand verwandeln!

(Knut Rauchfuss, Medizinische Flüchtlingshilfe, Rede zur Demonstration am 22.03.2003)



Liebe Bochumer Bürgerinnen und Bürger, liebe Freundinnen, liebe Freunde,

Bagdad brennt.
Flammen schlagen aus dem Regierungsviertel, und Trümmer fliegen durch die Luft. Die Erde bebt, Scheiben bersten, und die Druckwelle lässt die Wände der Wohnhäuser erzittern. Gigantischen Pilzen gleich türmen sich die Rauchwolken über der Stadt. Durch das Heulen der Sirenen und das Krachen der Explosionen dringt schwach von den Minaretten der Ruf zum Gebet. Ambulanzen bahnen sich ihren Weg durch den stechenden Qualm. Sie nähern sich jenen, die wir auf den Bildschirmen nicht sehen, jenen Menschen, deren Leid, deren Ängste und deren Zorn unsichtbar und stumm bleiben, und deren Tränen in stiller Verzweiflung den Tigris hinab rinnen.

Bagdad brennt.
Todespiloten fanatisierter Gotteskrieger fliegen unablässig ihre todbringenden Flüge auf die Gebäude der Stadt: God Bless America
Bomber und Lenkwaffen spucken ohne Pause ihre todbringende Fracht über die Stadt. Der Präsident des "God's own country", der sich zugleich als Präsident des Planeten begreift, macht unter dem Titel "Schock und Schrecken" seinen heiligen Schwur wahr. Er schleudert die Blitze des organisierten Wahnsinns gegen ein Land, welches das seine weder angegriffen, noch bedroht hat.
Und alle paar Sekunden wird ein weiteres Ziel in Bagdad in Schutt und Asche gebombt.

Bagdad brennt.
Und auch, wenn man die Leichen nicht sieht – nicht die Verletzten und nicht die Verstümmelten –, so kann keiner von uns beim Anblick der hoch auflodernden Flammen noch an das Märchen von den chirurgischen Schlägen glauben. Niemand kann heute mehr ernsthaft annehmen, dass 3.000 Raketen, Bomben und Marschflugkörper zwischen Tätern und Unbeteiligten unterscheiden.

Liebe Freundinnen, liebe Freunde, Bagdad brennt.
In bitteren Stunden wie diesen, bleibt uns nicht viel mehr als einzusehen, dass wir im Moment diese völkerrechtswidrige und kriminelle Invasion, dass wir dieses organisierte Verbrechen gegen den Irak derzeit nicht stoppen können. Wir konnten das Verbrechen nicht verhindern, trotz der historisch einzigartigen Proteste von weltweit 11 Millionen Menschen im Vorfeld des "Schocks und des Schreckens".

Bagdad brennt.
Aber heißt das etwa, dass deshalb unsere Aufgaben erledigt, unsere Verpflichtungen erschöpft und die Verantwortung erloschen sei?
Nein – im Gegenteil.
Die Verpflichtungen sind gewachsen für all jene, für die menschliches Leben und Würde, Freiheit und Menschenrechte noch irgendeine Form von Bedeutung haben.

Bagdad brennt,
und wir haben nicht das Recht, uns frustriert zurückzuziehen. Jeder und jede einzelne von uns, jedes Individuum hat Verpflichtungen gegenüber der Welt, die die Verpflichtungen gegenüber dem eigenen Gemeinwesen und seinen Gesetzen übersteigen.
Weil wir nicht wollen, dass "Schock und Schrecken" die Zukunft dieses Planeten bestimmen, weil wir nicht zulassen, dass internationales Recht mit Schaftstiefeln getreten wird, und schlichtweg, weil wir gar nicht anders können, werden wir in den nächsten Wochen und Monaten nicht in den Alltag zurückkehren.

Liebe Freundinnen und Freunde, niemand kann heute wissen, welche Aufgaben morgen auf uns zukommen, aber eins ist sicher:
wie auch immer der Krieg sich entwickeln mag, unsere Aufgaben werden mehr und drängender sein als zuvor.
Der Krieg kann zu eben jener humanitären Katastrophe führen, die zahlreiche Hilfsorganisationen bereits voraussagen. Er kann lang andauern oder schnell zuende geführt werden. Er kann sich zu einem Flächenbrand ausweiten, der den gesamten Nahen und Mittleren Osten erfasst, oder er kann verhältnismäßig "glimpflich" verlaufen – was nicht diejenigen aus ihrer kriminellen Verantwortung entlässt, die ihn in rücksichtsloser Verachtung menschlichen Lebens und internationalen Rechtes begonnen haben, um ihre eigenen ökonomischen Interessen, um territoriales Vormachtstreben und ihre niederen Instinkte zu befriedigen und um den Benzin-Bedarf einer verschwenderischen Konsum-Gesellschaft zu decken.
Wie auch immer, wenn das Faustrecht der Satten sich breitmacht, werden wir nicht in kopfnickendes Schweigen verfallen.

Liebe Freundinnen, liebe Freunde, wir wenden uns gegen das organisierte Verbrechen eines völkerrechtswidrigen Angriffskrieges, und wir sollten dies in allererster Linie dort tun, wo wir leben.
Dort, wo die kriegstreiberischen Parolen nicht weniger kriminell sind, nur weil sie nicht vom Präsidenten des Planeten persönlich, sondern von seinen PressesprecherInnen Merkel und Merz vorgetragen werden.
Dort, wo die Bildzeitung am Tag des Beginns des Massakers in großen blutigen Lettern fordert: "Tötet Saddam".
Dort, wo die erbärmlichen Lakaien des Präsidenten des Planeten, zwar noch in der Opposition sind, wo ihre öffentlich zur Schau gestellte Scham – diesmal nicht mit eigenen Killerkommandos beim Schlachtfest vertreten zu sein – an Widerwärtigkeit jedoch kaum zu überbieten ist.
Und speziell, wenn diese verhinderten Ableger von "Schock und Schrecken" offen den Einsatz des Militärs im Inneren der Bundesrepublik fordern, die Wiederzulassung der Folter auf deutschen Polizeiwachen empfehlen und mit offen rassistischen Positionen in Wahlkämpfe ziehen, spätestens dann sind jene Anfänge überschritten, die man noch mit angeekeltem Weghören quittieren könnte.
Sie sitzen hier im eigenen Land, liebe Freundinnen und Freunde, ihre Parteibüros sind um die Ecke. Geht hin, und fordert sie mit der Macht Eurer Stimme auf:
"Frau Merkel, Herr Merz. Krieg erhöht die Gewinnspanne. Investieren auch Sie einen Sohn!"

Und die Bundesregierung?
Zunächst ist es zu loben, dass sie beim dritten Krieg innerhalb ihrer Amtszeit diesmal erstmals nicht in der ersten Reihe mit dabei ist. Auch ich habe ihr diese Standhaftigkeit zunächst nicht zugetraut. Sie hat maßgeblich zur diplomatischen Isolierung der Krieger beigetragen und zur Weigerung der UN, dem Krieg den völkerrechtlichen Segen zu erteilen.
Aber manchmal empfiehlt es sich eben doch, Augen am Hinterkopf zu haben:
Warum erlauben sie den Truppen der Angreifer, Militärbasen hier als Drehscheibe für Truppentransporte und Materialnachschub zu nutzen?
Warum sichert die Bundeswehr die reibungslose Funktion dieser Basen militärisch ab?
Warum wurden die in Kuwait stationierten Bundeswehreinheiten gestern aufgestockt?
Mit welchem Recht liefern AWACS Aufklärungsflugzeuge mit deutscher Besatzung Leitinformationen für die Bombengeschwader der türkischen und der US-Armee?
Und wie naiv oder verlogen muss man politisch sein, um selbst aus der heutigen Perspektive noch glauben zu wollen, eine deutsche Beteiligung an der Terrorallianz in Afghanistan und an zahlreichen anderen Orten könne irgendwie moralisch zu rechtfertigen sein?
Wir fordern von der Bundesregierung den unmittelbaren Rückzug aus all diesen Unterstützungsmaßnahmen.

Und wir fordern die Bundesregierung auf:
"Soldaten und Soldatinnen der in Deutschland stationierten Truppen, die sich der Beteiligung am Krieg entziehen, nicht auszuliefern und sie zu schützen, sowie allen Verweigerern und Deserteuren aus kriegführenden Ländern, wie z.B. auch aus dem Irak und der Türkei, Asyl zu gewähren."
Eine entsprechende Anzeige ist in der heutigen Ausgabe der Frankfurter Rundschau erschienen.

An diesen Taten werden wir das NEIN der Bundesregierung messen. Eine rein verbale rot-grüne Kriegsgegnerschaft ist uns zu wenig.

Und außerdem, liebe Freundinnen und Freunde, außerdem müssen wir uns jene Bürgerrechte und jene Demokratie zurückholen, die uns seit dem 11. September 2001 systematisch genommen wurden, die in Sicherheitsgesetzen zu Tode geschützt, in überwachungsstaatlichen Maßnahmen erstickt und niedergedrückt wurden in Kontrollen und Repression, die sich insbesondere gegen unsere Freundinnen und Freunde ohne deutschen Pass richten.

Frieden, liebe Freundinnen und Freunde, Frieden ist mehr als die Abwesenheit von Krieg. In diesem Sinne ist die Forderung nach Frieden für uns unabdingbar verbunden mit der Forderung nach einer gerechten Verteilung der Ressourcen und der menschlichen Würde. Nur in einer gerechten Welt ist ein dauerhaftes Leben in Frieden und Sicherheit möglich.
Frieden ist ein Prozess, der ständig neu erkämpft werden muss.

Über den ganzen Globus hinweg haben wir unser "NEIN" zum Krieg eindrucksvoll wie niemals zuvor in der Geschichte demonstriert. Nun müssen wir zeigen, dass auch wir es ernst meinen.
Wir müssen über das "NEIN" hinausgehen und unseren Protest in Widerstand verwandeln, in zivilen Ungehorsam auf allen Ebenen, die das Räderwerk des Krieges betreffen.

Rufen wir heute zum Boykott jener Ölkonzerne auf, deren Gewinninteressen hinter diesem Krieg stecken!

Lasst uns schon in der kommenden Woche massenhaft teilnehmen an einer erneuten Blockade der Rhein-Main-Airbase, einer zentralen Drehscheibe des US-amerikanischen Nachschubtransports in die Golfregion.
Auch die NATO-Airbase Geilenkirchen bietet sich als Blockadeziel an. Sie liegt hier ganz in der Nähe und beherbergt die in Deutschland stationierten AWACS-Aufklärungsflugzeuge.
Lasst uns die Nachschubadern des Krieges blockieren, so wie es uns unsere Freundinnen und Freunde in der Türkei, in Italien, in Griechenland und in Spanien eindrucksvoll vorgemacht haben.

Und liebe Freundinnen und Freunde, lasst uns all jene unterstützen, die vor den Kriegen fliehen, in die sie geschickt werden. Und solange die Bundesregierung sie nicht zu schützen bereit ist, solange müssen wir das eben tun.

Liebe Freundinnen, liebe Freunde, seht die Proteste der Schulen – langsam werden unsere Träume erwachsen. Und auch in den Gesichtern der Älteren glitzern noch immer dieselben rebellischen Falten. Gemeinsam werden wir ihnen zeigen, dass wir nicht aufstecken werden, dass wir – mit nichts als Hoffnung gewappnet – frech, beständig und schamlos der Barbarei dieser Tage ins Gesicht spucken, uns dem stampfenden Tritt der Kolonnen entgegenstellen und mit Horden von Widerspenstigen die herrschenden Verhältnisse zum Tanzen bringen können.