Ruhr Nachrichten Bochum - 19. 03. 2003:
"Es kocht in den Betrieben"
Vor weiten Reisen scheut sich Ludger Hinse bekanntlich nicht. "Unter Kohl sind wir nach Bonn marschiert, unter
Schröder kommen wir gern auch nach Berlin," sagt der DGB-Kreisvorsitzende. Nicht zum Vergnügen,
sondern zum Protest, versteht sich. Die Ankündigungen des Kanzlers zum Umbau des Sozialstaats werde der heimische
DGB nicht klaglos hinnehmen, versichert SPD-Mann Hinse.
Klagen gibt es zu Hauf: "Vor allem die Beschränkung des Arbeitslosengeldes auf zwölf Monate ist
Reiz-Thema bei den 80 000 Bochumer Arbeitnehmern." In Briefen, Telefonaten und persönlichen Gesprächen
hat der DGB-Chef den Volkszorn ausmachen können: "Die Kollegen werden betrogen und sie fühlen sich
auch betrogen; es kocht in den Betrieben." Wie sollte ein Gewerkschaftsfunktionär auch einem 56-jährigen
Arbeitnehmer klar machen, dass er nach 40 Jahren Beitragspflicht zur Arbeitslosenversicherung, bei einer Kündigung
zwölf Monate später in die Sozialhilfe abrutscht? "Hätte er statt der Beiträge in eine
Lebensversicherung investieren dürfen, könnte er das Dreifache kassieren," rechnet Hinse vor.
Und auch die Betriebsräte rechnen jetzt. Beispiel ThyssenKrupp: Sieben älteren Arbeitnehmern soll betriebsbedingt
gekündigt werden. Normalerweise hätte der Betriebsrat zugestimmt, jetzt nicht mehr, hat Hinse erfahren
- "hier ist die Schmerzschwelle überschritten, ein Systemwechsel, bei dem eine Säule des Sozialstaats
einfach abgerissen werden soll."
Die Kollegen wollen sich nicht "abstrafen" lassen. Der DGB-Kreis organisiert den Protest: "Wir haben
schon vor der Kanzlerrede mit den heimischen SPD-Bundestagsabgeordneten gesprochen. Diese Diskussionen werden wir
wieder aufnehmen und auch CDU-MdB Norbert Lammert einbeziehen," kündigt Hinse an.
Auch ihm ist klar, dass das bisherige Sozialsystem auf Dauer so nicht weiter finanzierbar sein wird. Und: "Die
Lohnnebenkosten dürfen nicht weiter steigen; das frisst ja schließlich auch unsere Tariferhöhungen
auf." Aber über Alternativen zur Finanzierung müsse erstmal geredet werden - Stichworte für
den DGB-Kreisvorsitzenden und 1. Bevollmächtigten der IG Metall sind: Streichung sachfremder Ausgaben der
Bundesanstalt für Arbeit oder Einbeziehung der Beamten, Selbstständigen und Abgeordneten in die Sozialsysteme.stö