Schlusswort von Hannes Bienert
im Prozess am 3.11. 2005


Ich bin Jahrgang 28 - heute also im 77. Lebensjahr - und habe dadurch als 10-Jähriger fast noch ein Kind, die Reichpogromnacht am 9. November 1938 selbst erlebt und bis heute die Schreie in der Nacht der grölenden SA-Leute mit dem Ruf "Juda verrecke!" nicht vergessen.
Nach 1945, als ich heil und gesund aus dem Krieg nach Hause kam, und 1948 dann das erste Mal das Konzentrationslager Buchenwald besichtigte, habe ich mir geschworen, mein weiteres Leben der Maxime "Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg!" zu widmen und meine ganze Kraft - soweit es die Gesundheit noch zulässt, dafür einzusetzen, dass die junge Generation nie wieder solche Schrecken und Verbrechen erleben muss, wie ich und andere Schicksalsgefährten.
Ich habe diesen kleinen Rückblick auf meine Vergangenheit, die mich geprägt hat, wie ich heute bin, dargestellt in der Hoffnung, Ihnen vielleicht vermitteln zu können, welche Gefühle und Betroffenheit in mir ausgelöst werden - heute 67 Jahre nach der Reichspogromnacht am 9. November 1938 kriminalisiert zu werden und das auch noch mittels einer Vorladung zur Vernehmung - ausgerechnet auch noch zum Staatsschutz - wegen "verbotener nicht angemeldeter Veranstaltungen".
In einer Protesterklärung der VVN Bochum - Bund der Antifaschisten heißt es: Wir protestieren gegen die Kriminalisierung von Hannes Bienert und finden es unverständlich, dass das Gedenken an die Opfer der Reichspogromnacht als kriminelle Handlung betrachtet wird.
Ich werde kriminalisiert, weil ich im Gedenken an die jüdischen Opfer, gemeinsam mit sechs nicht fünf, wie es Falsch in der Anklageschrift heißt, weiteren Personen in einem kurzen Marsch, ca 500 m durch die Wattenscheider City (unter ihnen ein Studienrat der Märkischen Schule und ein jüdischer Kantor) auf den Weg machten, um am Standort der ehemaligen Synagoge einen Kranz niederzulegen.
Oberstaatsanwalt Dörsch, Pressesprecher der Behörde, wird in den Ruhr-Nachrichten vom 30.6.05 zitiert: "Natürlich sei dies ein verhältnismäßig kleiner aber dennoch formaler Verstoß gegen das Versammlungsrecht."
Aus meiner laienhaften Sicht hat er de jure wahrscheinlich Recht - aber de facto liegt er meines Erachtens total daneben. So empfinde nicht nur ich, sondern aus Gesprächen mit Jugendlichen weiß ich, dass auch sie das Fehlen jeglicher Sensibilität in Hinblick auf das historische Datum 9. November merken.
Im Stadtspiegel Wattenscheid vom 29.10 heißt es dazu: "Die Anklage wird in der Öffentlichkeit und in Justizkreisen mit Kopfschütteln betrachtet." Noch schärfer dazu der Chronist in der WAZ-Bochum am 30.6.2005. Zitat: "Aus der nicht angemeldeten Kranzniederlegung für die jüdischen Opfer einen Straftatbestand zu konstruieren und mit einem Prozess zu krönen ist ebenso abgeschmackt wie blamabel."
Einen ganz besonders bitteren Beigeschmack hat die Angelegenheit, mich mit diesen Vorwürfen ausgerechnet zum Staatsschutz vorzuladen, wenn zeitgleich Bochumer NPD-Mitglieder gegen den Bau einer Synagoge in Bochum demonstrieren und der NPD-Politiker Claus Cremer als geistiger Brandstifter wegen Volksverhetzung angeklagt wurde. Ist das Zufall oder Absicht?
In einem offenen Brief vom 28.6.05 an den leitenden Oberstaatsanwalt Bernd Schulte wirft Dr. Ralf Feldmann, Richter am Bochumer Amtsgericht für das Bochumer Friedensplenum die Frage auf: "Woher nimmt die Staatsanwaltschaft den Mut den für den Tatbestand nötigen Vorsatz zu unterstellen?" Weiter heißt es dann, dass kein öffentliches Interesse daran bestehen kann, das Gedenken an die Opfer der Reichspogromnacht am 9. November 1938 zu kriminalisieren. Der Brief schließt mit den Worten, die wort-wörtlich auch meinen Empfindungen Rechnung tragen: "Diese Anklage ist ein Tiefpunkt der Rechtskultur in Bochum. Eine Staatsanwaltschaft, die dafür verantwortlich ist, hat aus unserer Geschichte nichts gelernt."
SPD-MdB Wiefelspütz hat anlässlich der geplanten NPD-Demo am 60. Jahrestag der Befreiung vom Hitlerfaschismus und Krieg vor dem Brandenburger Tor in Berlin in einer Stellungnahme zum Verbot der NPD-Veranstaltung gesagt - MdB Wiefelspütz ist übrigens von Beruf Richter: Recht sind wichtig. Es gibt Situationen, da hat die Politik Vorrang!
Im Vorfeld des heutigen Prozesses wurde mit Datum vom 29.10.05 ein offener Brief an den leitenden Oberstaatsanwalt Bernd Schulte übergeben, der von Ludger Hinse, DGB-Kreisvorsitzender Bochum, Gert Schäfer, GEW-Wattenscheid und Karin Schiele GEW-Bochum unterschrieben ist. Gestatten Sie, dass ich einen Absatz zitiere: ""Wie will ein Lehrer seinen Schülerinnen und Schülern diese dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte vermitteln, wenn jemand, der an einem solchen Gedenktag als Geste gegen das Vergessen als Zeichen der Trauer einen Kranz niederlegt und dann für sein Tun bestraft wird. Ein wesentlicher Grundsatz pädagogischer Arbeit ist es, den jungen Menschen Orientierung und Leitlinien zu vermitteln. Dazu gehört im politisch-gesellschaftlichen Bereich zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem, zwischen Wichtigem und Unwichtigem unterscheiden zu lernen. Eine Bestrafung von Johannes Bienert dafür, dass er die Veranstaltung nicht den Polizei- und Ordnungsbehörden gemeldet hat, macht das Unwesentliche wichtig und das entscheidend Wesentliche unwichtig."
Angesichts aller widerwärtigen Begleitumstände - fast neun Monate musste ich auf den Prozessbeginn warten - und neun Monate auf diesen unangenehmen Tag zu warten ist kein Pappenstil - finde ich die 10 Minuten Dauer meiner Erklärung für angemessen.
Ich bin Optimist und hoffe, dass neben juristischen Überlegungen auch der pädagogische Grundsatz, wie er im offenen Brief der Bochumer Gewerkschaften formuliert ist, berücksichtigt wird, der lautet: Zwischen wesentlich und unwesentlich und zwischen wichtig und unwichtig ist zu entscheiden. Dies könnte bei der Urteilsfindung hilfreich sein.
Ich bitte, nicht falsch verstanden zu werden. Meine Absicht ist keine Verteidigungsrede zu halten, sondern das öffentliche Interesse aufzuzeigen.
Die demokratische Öffentlichkeit in Bochum und Wattenscheid verfolgt - wie mir in zahlreichen Veranstaltungen übermittelt wurde - mit großer Erwartung, wie das Gericht heute entscheidet.
Heute, das heißt: Sechs Tage vor dem 67. Jahrestag der Reichspogromnacht von 1938 und elf Tage vor der Grundsteinlegung zur Errichtung einer Synagoge für die jüdischen Mitbürger in unserer Stadt!

Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.


Bei dieser Mitschrift handelt es sich um keine von Hannes Bienert autorisierte Fassung.