9. November 1938:
Erkennen - Erinnern - Handeln
Die Bilanz des Novemberpogroms 1938 ist bekannt

Über 90 Ermordete und Todesfälle, über 30 Schwerverletzte und Selbstmorde, nicht wenige Vergewaltigungen; etwa 30.000 Juden wurden verhaftet, davon fast 9.000 ins KZ Buchenwald, über 10.000 ins KZ Dachau, fast 10.000 ins KZ Sachsenhausen verschleppt, von denen viele nie mehr zurückkamen; zahlreiche jüdische Friedhöfe wurden verwüstet, mindestens 262 Synagogen, ca. 7.500 jüdische Geschäfte, mindestens 177 Wohnhäuser zerstört und/oder geplündert, zehntausende von Fensterscheiben eingeworfen. Es entstand ein erheblicher Sachschaden.

Der Novemberpogrom von 1938 brachte die bis dahin größten und schlimmsten antisemitischen Ausschreitungen auf deutschem Boden – wie in Mitteleuropa überhaupt – seit den Massakern des Mittelalters. Viele Deutsche waren daran beteiligt, alle Deutschen waren Zeugen; denn es geschah in ihrer Stadt, in ihrem Dorf, in ihrer Straße, in ihrem Haus, verübt von Deutschen an Deutschen, eben "nur" weil sie Juden waren.

Jeder konnte sehen, daß dies ein himmelschreiendes Unrecht war, und alle mußten es wissen, aber so gut wie niemand hat es laut gesagt oder gar hinausgeschrien. Es mag sein, daß die Mehrheit des deutschen Volkes damals dies alles vielleicht nicht so oder nicht ganz so gewollt hat. Doch gab es viel heimliche und offene Schadenfreude, wenig erkennbare Anteilnahme oder tätige Betroffenheit oder gar mutige Hilfeleistung, dafür Gleichgültigkeit vor allem und keinerlei öffentlich vernehmbaren Protest.

Die Pogromnacht vom November 1938 war die Nacht, in der Anstand und Menschlichkeit auch aus ihren christlichen Angeln gehoben wurden. Sie war im Sinne der Nationalsozialisten ein gelungener Volkstest, wodurch das Tor zur folgenden, bislang einmaligen Judenverfolgung und Judenvernichtung erst richtig aufgestoßen und die letzten Hemmschwellen abgebaut wurden.

Es ist richtig: 1938 ging es noch darum, ein "judenreines Reich" durch den Zwang zur Auswanderung zu schaffen. Dennoch: Vom 9./10. November 1938 bis zur Deportation der Juden ab 1940, bis zur ersten "Probevergasung" in Auschwitz am 3. September 1941, bis zur Wannsee-Konferenz vom 20.1.1942, bis zur Vernichtung des Warschauer Ghettos im April/Mai 1943, bis zur Hochkonjunktur der Todesfabriken in Auschwitz, Majdanek, Treblinka und vielen anderen Vernichtungslagern waren es nunmehr kleine Schritte. Davon haben wohl nicht alle gewußt, und viele haben es nicht geglaubt oder überhaupt für möglich gehalten.

Den Novemberpogrom 1938 jedoch haben alle Deutschen so oder so unmittelbar miterlebt, Millionen hörten von der Barbarei, viele Tausende sahen die Brandstätten, die deutsche Öffentlichkeit wußte alles. Nach dem staatlichen Antisemitismus von 1933 bis 1938 und dem Novemberpogrom von 1938 konnten die Judenverfolgungen nun in hemmungslose Judenvernichtung übergehen. Millionen waren betroffen, eine Zahl, die nur aussagefähig wird, wenn man sich bewußt macht, daß es Millionen Einzelschicksale sind, jeder Mensch nur ein Leben hat.

Die persönlichen Leidenswege und familiären Schicksale, die sich hinter diesen schwarzen Zahlen verbergen, sind weitgehend unbekannt, man kann sie allenfalls nur schwach erahnen. Aber alles war gewiß viel barbarischer, viel schlimmer, viel schrecklicher, als man sich dies heute vorstellen kann.

Die meisten der persönlichen Erinnerungen wurden bereits mit in die Gräber genommen, nur wenige wurden oder werden aufgeschrieben und hoffentlich für alle Zeiten aufbewahrt und überliefert. Niemals wird sich die böse Chronologie des Antisemitismus, der Diskriminierung, Zerstörung, Vertreibung, Deportation und Vernichtung aus der Geschichte der deutschen Dörfer, der Städte, des deutsch-beherrschten Europas löschen, und kein Jota der Geschichte wird sich ändern lassen. Wer diese Geschichte, die ganz persönliche wie die allgemeine, so nicht akzeptieren will, zu verdrängen oder zu verschweigen versucht, den holt sie früher oder später um so gnadenloser ein.

Es kann hier nicht um nachträgliche Beschuldigungen oder Schuldzuweisungen gehen. Die damaligen Täter, Mitläufer und Nutznießer haben sich höchstpersönlich selbst mit Schuld beladen, wobei heute viele von Glück sagen können, daß sie damals nicht in Versuchung geführt wurden.

Heute der damaligen Ereignisse zu gedenken, sollte vor allem dazu anleiten, keinerlei Form der Ausgrenzung von Mitmenschen unter irgendwelchem Vorwand zu dulden. Wer hier und heute gleichgültig ist und schweigt, wenn Anstand oder gar einmal Zivilcourage gefragt oder gefordert sind, der hätte auch damals gleichgültig geschwiegen. Wer heute nichts wissen will, der hätte auch damals und besonders natürlich hinterher gewiß von nichts gewußt. Heute sind unweigerlich wir verantwortlich, jetzt ist es an uns, an jedem Einzelnen, an jedem an seinem Ort, die Weichen für die Zukunft ein für allemal so fest zu stellen, daß der Zug der Geschichte nicht wieder so gräßlich entgleisen kann. In diesem Sinne lautet die Lehre der Geschichte: Erkennen und Erinnern, Lernen und Handeln, mit allen guten Kräften eine mitmenschlichere Welt zu verwirklichen suchen, im Kleinen wie im Großen an einer gerechteren und friedlicheren Lebensordnung in Deutschland, in der Welt mitwirken helfen, die Haß und Pogrome unmöglich macht. Die täglichen Berichte in den Medien machen entsprechendes Handeln zwingend.

Hubert Schneider

Erstveröffentlichung in Josef Krug, Brunos Kristallnacht 1998.

 Hinweis der Redaktion: Wir waren der Meinung, daß dieser Artikel, wenn auch bereits 1998 geschrieben, nichts an seiner Aktualität verloren hat; deshalb veröffentlichen wir ihn in unserer Zeitung.