WAZ Bochum, 26.11. 2005:

Obdachlose wollen nicht verjagt werden


Rund 50 Obdachlose ließen es sich am Freitag trotz empfindlicher Kälte, Sturmböen und Schneeregen nicht nehmen, ihre Demonstration durch die vorweihnachtlich geschmückte City zu starten. Wäre es nicht so traurig, fühlte man sich bei diesem Umzug an ein tristes Sittengemälde à la Oliver Twist erinnert. Denn auch das politische Bochum merkte auf. Bericht 3. Lokalseite

Foto: WAZ, Ingo Otto



"Ottilie, bring uns doch heißen Tee"
Umzug des Elends durch die Stadt. Rund 50 Nichtsesshafte marschierten durch die Innenstadt, um auf ihre Situation aufmerksam zu machen. Foto: WAZ, Ingo Otto

Eingehüllt in warme Parkas, vermummt mit löchrigen Schals - ein Bild des Elends mitten im Schneeregen bei Temperaturen um den Gefrierpunkt. Es sind vielleicht 50 Männer und Frauen, die sich trotzdem am Freitagvormittag neben dem Engelbert-Brunnen versammeln.
Zu den Nichtsesshaften, die auf ihre Situation aufmerksam machten wollen, gesellt sich ein gutes Dutzend Drogenabhängiger. Beide Gruppen eint die miese Situation. Manfred Gehrmann, obdachlos und einer der Organisatoren der Demonstration, ruft ins geliehene Megafon: "Wir sehen nicht ein, dass wir überall weggejagt werden."
Die Kritik richtet sich gegen die Praxis der Platzverweise, die Drogenabhängige wie Nichtsesshafte gleichermaßen trifft. Der 38-jährige drogenabhängige Mike schildert: "Mir sagte mal ein Polizist, ´am besten ist, Euch schießt man auf den Mond´." Bochumer Bürger beinahe ohne jede Lobby sind es, die da mit zwei kümmerlichen Transparenten an den weihnachtlich dekorierten Schaufenstern vorbei die Kortumstraße hinunterlaufen.
Sie fordern bessere Schlafmöglichkeiten, die sie sogar selbst herrichten wollen, wie einige versichern. Vor dem Landgericht zeigen die Demonstranten auf die verschlossenen Toilettenanlagen. Wer kein Geld übrig hat, kann die Einrichtung nicht nutzen.
Immerhin ein paar Kommunalpolitiker haben an diesem grauen Freitag Zeit gefunden, mit auf die Straße zu gehen. Wolfgang Cordes (Grüne) ruft sichtlich betroffen ins Mikrofon: "Wenn es gegen Vertreibung geht, stehen wir an Ihrer Seite." Er verweist darauf, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer mehr auseinander gehe. Ähnlich äußert sich Christoph Nitsch von der Sozialen Liste: "Alle, die nicht ins Bild passen, werden verdrängt." Für die nächste Ratssitzung kündigen beide Parteien Initiativen an.
Während sich die klägliche Gruppe, flankiert von Streifenwagen, ihren Weg durch die Innenstadt bahnt, drehen sich etliche Passanten weg, raunen ihrer Begleitung wenig freundliche Bemerkungen zu. Nicht so Marianne Schneider, die Bochumerin schaut zweimal hin, will wissen, worum es eigentlich geht. "Ich verstehe diese Leute. Was weiß ich denn, wie jemand in so eine Lage kommt. Das kann doch jeden treffen."
Vor dem Rathaus angekommen, skandiert die Gruppe immer wieder "Wir sind Menschen, wir sind Menschen!" Einer wagt den Scherz und ruft zu den erleuchteten Fenstern hoch. "Ottilie, bring uns doch mal einen heißen Tee runter." Doch die Demonstranten auf dem zugigen Platz sind eher nicht zu Späßchen aufgelegt Eine junge Frau wickelt gemeinsam mit einem Bekannten ihr selbstgemaltes Plakat um die große Glocke auf dem Vorplatz. "Der Hausmeister, Angestellter der Stadt Bochum, sagte zu mir. Nächstes Mal zünde ich Dich an", steht dort in ungelenken Buchstaben. Die 39-Jährige erzählt auf Nachfrage die ganze Geschichte. Sie habe vor einiger Zeit im Kongress-Center geschlafen, wusste sonst nicht wohin. Als sie bereits draußen gewesen sei, habe es diese Bemerkung wörtlich so gegeben versichert sie .
Am Ende gibt sich Organisator Manfred Gehrmann durchaus zufrieden, obwohl er insgeheim doch mit mehr Teilnehmern gerechnet hat. Er zuckt die Schultern und fragt seine Kumpel: "Wo sollen wir jetzt hin?"

25.11.2005 Von Michael Weeke