Nr. 35 • 16. Mai 2000

Zur Kritik an der rot-grünen Sozial- und Beschäftigungspolitik
Die politische Wirkungssumme der Grünen fällt insgesamt reformnegativ aus. Da die beiden Petra-Kellyschen Beine (außerparlamentarisches und parlamentarisches) bald durcheinander geraten mussten, haben die Grünen insgesamt mehr dazu beigetragen, soziale Bewegungen ins etablierte Kanalsystem kooptativ hereinzulotsen – Stichworte: Staatsknete, Positionen, Schein von Macht –, als die etablierten Institutionen reformerisch zu öffnen" (W. D. Narr).
Die anvisierte strategische Neuausrichtung der grünen Partei auf die Wechselwähler der " Neuen Mitte" führt zu einer Politik, die sich immer stärker an den Eliten in Wirtschaft, Medien und Wissenschaft orientiert. Die Sozial- und Beschäftigungspolitik wechselt von der Perspektive der Betroffenen zu einer Perspektive der Verwaltung von Arbeitslosigkeit und sozialer Ungleichheit.
Strategien, nach denen das Primat der Senkung der Staatsquote gegenüber allen anderen Zielen durchgesetzt werden sollen, sind mit einem vorgeblichen sozialökologischen Reformprojekt jedenfalls nicht zu vereinbaren. Mehr noch: Rot- grüne Haushaltspolitik konzentriert sich auf "Austeritätsgesichtspunkte" : Senkung der Defizitquote auf Null. Dieser klassische Laisser- Faire- Kurs impliziert den Abbau sozialstaatlicher und ökologisch relevanter Ausgaben. Unterschlagen wird außerdem die ökonomisch restriktive Wirkung starker staatlicher Ausgabenkürzungen.
Das ins Feld geführte Argument der "intergenerativen Gerechtigkeit" dient dabei nur als Feigenblatt, denn zunächst und real geht es um intragenerative Umverteilung: von unten nach oben. Nun wird ein Sparpaket als "größtes Reformprojekt aller Zeiten" verkauft. Auf die Möglichkeit von Steuermehreinnahmen (bei den Bessergestellten) wird nicht nur bewußt verzichtet, im Gegenteil, gerade den Unternehmen werden in atemberaubender Weise die Steuern gesenkt.
Das Problem der Arbeitslosigkeit wird inzwischen weitgehend durch die neoliberale Brille wahrgenommen: "Der Abbau der Arbeitslosigkeit kann nur erreicht werden, wenn auf der Grundlage einer nachhaltig ausgerichteten wirtschaftlichen Entwicklung mit Strukturreformen auf den Güter- und Faktormärkten bestehende Inflexibilitäten beseitigt werden" (Erklärung von Bündnis 90/ Die Grünen im Bundestag, 8. März 1999).
Die neoklassische Analyse erblickt den Grund von ("unfreiwilliger" ) Arbeitslosigkeit darin, dass das Reallohnniveau – aus Gründen eines " gestörten Wettbewerbs" – auf einer Höhe verbleibt, die eine Markträumung (Vollbeschäftigung) verhindert: Der Arbeitsmarkt ist zu wenig flexibel, als dass sich ein Reallohnniveau herausbilden kann, bei dem Vollbeschäftigung herrscht. Diese Inflexibilität sei " institutionellen Bedingungen" geschuldet, die ein Sinken der Reallöhne verhindern: zu hohe Lohnersatzleistungen, zu hohe Lohnnebenkosten ("zu viel Sozialstaat") , Flächentarifverträge, zu starke und monopolistisch agierende Gewerkschaften ("Lohnkartell" ), zu viel Kündigungsschutz, zu starres Recht. Insofern sei die Arbeitslosigkeit wesentlich "strukturell" bedingt.
(Beachtenswert erscheint in der grünen Erklärung auch die neue Definition von "Nachhaltigkeit" sowie die "modernisierte" Bedeutung von "Strukturreformen": Letztere jetzt gemünzt auf die Infragestellung von sozialen Rechten und Sicherungen, früher waren hier einmal die gesellschaftspolitisch fragwürdigen Besitz- und Produktionsverhältnisse gemeint.)
Die rot- grüne Bundesregierung geht somit insgesamt von einem inversen Verhältnis zwischen Lohnhöhe und Beschäftigung aus – so dass sinkende Löhne mit steigender Beschäftigung einher gehen sollen, womit sich führende VertreterInnen der Regierungsparteien die Krisendiagnose der Wirtschaftsverbände zueigen gemacht haben.
Im Zentrum der " neuen" beschäftigungspolitischen Wege steht folgerichtig die Senkung des allgemeinen Lohnniveaus. Dabei ist die Bewertung dieser Konzepte als " innovativ" und " neuartig" insofern verwunderlich, als keines der grundlegenden Argumente jünger als hundert Jahre ist. Außerdem: Würden in Deutschland Nullrunden bei den Löhnen stattfinden, käme es bei den anderen Teilnehmer- Ländern der Euro- Währungszone zu einem enormen Anpassungsdruck.
Als weiteres Patentrezept wird eine stärkere Lohnspreizung - sowohl innerhalb einer Branche als auch zwischen den Branchen – propagiert. (vgl. auch W. Clement: "es können nicht alle Metalltarif verdienen", SZ 7/ 99) Ein stärkeres Einkommensgefälle lässt sich jedoch nur etablieren, wenn soziale Sicherungssysteme abgebaut werden.
Folgerichtig wird derzeit an der "Zusammenlegung" von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe gebastelt.
Im grünen Dokument "Initiative für Investitionen, Arbeit und Umwelt" von letztem Jahr werden die Kerne von weitergeführter neoliberaler Politik aus den Zeiten der Kohl-Regierung offengelegt: "Reform der Unternehmensbesteuerung, Lohnzurückhaltung und Senkung der Lohnnebenkosten".
Das, obwohl die Unternehmen über die Jahre schon derart steuerlich entlastet wurden, dass die Steuerzahlungen des Unternehmenssektors inzwischen "geringer sind als die Subventionen" (Wirtschaftsminister Müller). "Lohnzurückhaltung" wird mindestens seit 1982 geübt – bei gleichzeitig steigender Massenerwerbslosigkeit.
Die höchsten Repräsentanten der " Neuen Mitte" , Blair und Schröder, haben sich an die Spitze der Sozialstaatskritik gesetzt und bedienen die klassischen Themen: "Überforderung der Ökonomie" , "Entmündigung des Bürgers" , "Strangulierung des Beschäftigungssystems" . Im Kern sollen dagegen folgende Mittel eingesetzt werden: "Kürzung der staatlichen Ausgaben" , " Förderung des Unternehmergeistes" , "Unterstützung der Anpassungsfähigkeit und Beschäftigungsfähigkeit der Menschen" . Laut den Sozialwissenschaftlern Streeck und Heinze aus " Schröders Denkfabrik" in der Arbeitsgruppe Benchmarking im "Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerb" ist das "Modell Deutschland" längst ein Schimpfwort:
a) Lohnnebenkosten und Lohnkosten seien zu hoch (" Arbeitsverhältnis de luxe"), das Lohngefälle zu niedrig – und insbesondere die unteren Lohngruppen seien beschäftigungsfeindlich zu hoch dotiert.
b) "Hauptproblem sozialer Gerechtigkeit ist heute nicht mehr die Ungleichheit zwischen Automobilarbeiter und Kellner, sondern zwischen beiden auf der einen Seite und den Arbeitslosen auf der anderen Seite" – … und außerdem "… ist das soziale Sicherungssystem so ausgestaltet, als sei es das gute Recht eines jeden Arbeitnehmers, dieser Veranstaltung fernzubleiben". (Die Ungleichheit zwischen Automobilarbeiter und Kellner auf der einen Seite und den jeweiligen Unternehmern auf der anderen Seite scheint hier ohnehin kein Thema mehr. Die Deutungshegemonie der "neuen sozialen Frage" ist akzeptiert.)
Damit sei der Verbleib im " Beschäftigungssystem" nicht nur eine Frage der Kosten, sondern auch der Gerechtigkeit (" fast jeder Arbeitsplatz ist besser als keiner") – somit sei aus Effizienzgründen ebenso wie aus Gerechtigkeitserwägungen heraus ein Sozialleistungssystem abzulehnen, das nicht zur Arbeit anreize, sondern Nicht-Arbeit fördere. Eine Politik der Verschärfung der Zumutbarkeitskriterien und des raschen Entzugs von Leistungen sei damit nicht nur ökonomisch, sondern auch normativ geboten. Streeck und Heinze: "… es gehört zu den Solidaritätspflichten der Gemeinschaft, ihre Mitglieder nicht vor den Marktzwängen zu schützen, die sie dazu bewegen könnten, sich noch einmal aufzuraffen". Bei Blair und Schröder liest sich das so: "Moderne Sozialdemokraten wollen das Sicherheitsnetz aus Ansprüchen in ein Sprungbrett in die Eigenverantwortlichkeit umwandeln".
Was bei Erscheinen des Schröder-Blair-Papiers 1999 als "echter Hombach, designed für den schnellen Leser" von Juso-Chef und RUB-Student Benjamin Mikfeld verharmlost wurde, hat sich seit den rot-grünen " Reform" - Projekten bei Renten, Gesundheit und SGB III (hier insbesondere die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe) als Kampfansage herausgestellt, die immer noch nicht bzw. von vielen erst zu spät ernst genommen wurde.

Reinhard Wegener

Literatur:
Prokla 116, „Rot- grüner Absturz"
Quer 4/ 00
A- Info 4/ 00