Wohnst du noch in deiner Wohnung oder bist du schon beim Umzug?

Rede von Ellen Diederich in Bochum Demo 18.5.2006 Auftaktkundgebung

 

Wohnen,

das sind nicht zu einem Quadrat gemauerte Steine, mit Tapeten bezogen, die beliebig gewechselt werden können.

 

Wohnen,

das ist für mich in den 15 Jahren, in denen ich in meiner Wohnung lebe, die Umwandlung einer grauen Betonlandschaft im Hof in eine grüne Oase, das Abtrotzen von 3 qm Garten, ist die Linde, die in dieser Zeit 10 m höher gewachsen ist,

das sind die Kinder der Anne Frank Schule auf der anderen Straßenseite,

das sind FreundInnen, die auf dem Weg zum Einkauf auf einen Kaffee vorbeikommen,

das ist das Spruchband im Fenster: Kein Krieg, Nirgends,

das sind die Erinnerungen an all die Aktionen gegen Krieg, für eine gerechtere Welt, die von diesem Hof ausgingen, die LKW’s, die voll beladen mit Kleidung, Lebensmitteln, Medikamenten zu den Flüchtlingslagern in Kroatien und Bosnien gefahren sind,

das sind die Tage mit den Kindern aus allen Flüchtlingsunterkünften, die wir hier her geholt, mit ihnen gespielt und gesungen haben,

das ist Erinnerung an Essen mit FreundInnen, an Gäste aus vielen Ländern,

das ist aus der ganzen Welt zusammengetragenes gelebtes Leben, sind Bücher, Musik, Fotos, Filme, Kunst,

das ist die Erinnerung an die lange Krankheit der besten Freundin, die Nächte des Vorlesens, um ihre Schmerzen vergessen zu machen und ihren Tod.

Ich habe eine große Wohnung gemietet, weil ich seit 15 Jahren das Internationale Frauenfriedensarchiv aufgebaut habe. Zornig darüber, dass bei all den Friedensaktivitäten, an denen ich weltweit beteiligt war, deutlich wurde, dass Frauen den größten Teil der Friedensarbeit machen, genau das aber nicht dokumentiert wird.

 

Eine große Sammlung ist zusammengekommen, Bücher, Fotos, Filme, Plakate, Ausstellungen, Kunstgegenstände. Für die Friedensarbeit hat mich die Stadt Oberhausen mit der Ehrennadel der Stadt ausgezeichnet.

 

Nun bin ich eine von ca. 700.000 Menschen in Deutschland, die einen Brief von einer Arbeitsagentur bekommen haben oder in den nächsten Wochen bekommen werden:

Ihre Wohnung ist zu groß, zu teuer.

In 6 Monaten soll ich die Kosten senken:

Mit dem Vermieter verhandeln, dass er die Miete reduziert.

Ich soll Fenster abdichten, Isolierungen einbauen, um Heizkosten zu sparen.

Das geht wunderbar von 345 Euro Hartz IV im Monat,

oder ich soll Untermieter aufnehmen,

oder ich soll in eine „angemessene“ Wohnung einziehen: 45 qm, 216 € Miete als Obergrenze.

Jeden Monat soll ich einen Nachweis über meine Anstrengungen einreichen.

Ziehe ich nicht um, werden nach 6 Monaten nur noch die Kosten übernommen, die ich hätte, wäre ich denn umgezogen.

 

Dieser Brief kam am 10. Januar 2006. Seit diesem Brief heißt Wohnen auch:

Nächte ohne Schlaf, Erhöhung der Stromkosten, weil Radio oder Fernsehen laufen, um die bohrenden Gedanken zu übertönen. Wenn ich mal einschlafe, wache ich auf, weil Wellen von Angst durch den Körper gehen. Ich träume, dass ich losfahre mit einem Ziel, aber nie dort ankomme, sondern immer irgendwo lande, wohin ich gar nicht will, ich fahre ans Meer und kann es nicht erreichen. Ich träume von zerbrochenen Brillen, ausgefallenen Zähnen, die ich nicht mehr ersetzen kann. Phantasien von Vertreibung, Flüchtlingsdasein, Obdachlosigkeit geistern durch die Träume. Ich, die ich so gut wie nie krank war, bin mit einem Mal dauernd krank, Blasenentzündungen, (die Psychologie definiert Blasenentzündungen als ungeweinte Tränen), dauernde Erkältungen,  eine Gürtelrose.

 

Umzugsvisionen. Wohin mit den vielen tausend Büchern? Mit den Gegenständen von Menschen, insbesondere Frauen aus der ganzen Welt, die Ausdruck von Friedenssehnsucht und –willen sind?

Die Angst vor der Enteignung des gelebten Lebens steigt hoch.

Ich tappe, wie so viele, die betroffen sind, in die Angstfalle.  Doch meine Wut wächst.

 

Im Zusammenhang mit der Aufforderung, die Wohnungen zu räumen, hat die größte Vertreibungsaktion in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland begonnen. Arme Menschen sollen nicht mehr das Recht haben, ihren Wohnort zu bestimmen, werden herausgerissen aus sozialen Zusammenhängen. Jetzt sind wir nicht nur erwerbslos, jetzt sollen wir auch unser Zuhause verlieren. Die durch das Grundgesetz garantierte Unverletzlichkeit der Wohnung ist mit dem SGB II und insbesondere den neuen Bestimmungen außer Kraft gesetzt. Die Menschen werden vertrieben, sollen sich billigeren Wohnraum suchen, der nicht vorhanden ist.

Es läuft eine beispiellose Kampagne der Diskriminierung von Erwerblosen. Einmal in den Medien, insbesondere in den Privatsendern, aber die öffentlich rechtlichen holen rasant auf. In Talk-Shows, Gerichtssendungen werden immer mehr Fälle konstruiert, in denen Menschen als „Sozialschmarotzer“, als „Parasiten“ (dieses Wort haben wir Herrn Clement zu verdanken) dargestellt werden. Gerade von diesem Mann ist der Prozeß der Clementierung der Verhältnisse eingeleitet worden.

 

In einer Sparte gibt es neue Jobs: In der Sparte “Sozialdetektive“. Diese werden mit immer mehr Rechten ausgestattet. Sie gehen in Wohnungen, informieren sich bei Nachbarn über Lebensalltag von Erwerbslosen, sie kontrollieren Schränke und wie viel Zahnbürsten im Bad vorhanden sind. Jederzeit kann von der AA angerufen werden. Handeln wir nicht kooperativ, drohen Strafmaßnehmen, Kürzung von Geld.

 

Ein genereller Vorverdacht der Kriminalisierung ist gang und gebe. Mit welchem Recht maßt sich diese Regierung eigentlich an, Erwerbslose unter Generalverdacht zu stellen?

 

Vor einiger Zeit hatte der amtierende hessische Justizminister bereits die grandiose Idee, Langzeiterwerbslosen Fußfesseln an zulegen, damit sie „sich besser an Arbeitszeiten gewöhnen“, vor allem aber, damit sie jederzeit kontrollierbar sind.

„HARTZ IV ist offener Strafvollzug.

Es ist die Beraubung von Freiheitsrechten, Hartz IV quält die Menschen, zerstört ihre Kreativität.“ Sagt Götz Werner, Chef der DM Drogeriemärkte in einem Gespräch im Stern.

Was können wir tun?

„Widerstand ist das Geheimnis der Freude!“

Sagt die afroamerikanische Schriftstellerin und Aktivistin Alice Walker

 

 

Unser großes Problem ist das der Vereinzelung. Wir sind so leise geworden, mucken nicht auf gegen die vielfältigen Formen der Repression. Immer noch ist da Scham auf  unserer Seite. Wir fragen: Wann kommt der Aufschrei, der zu hören ist, wann weicht die Resignation wieder der produktiven Wut? Von einer "lautlosen Massendisziplinierung" spricht der Berliner Politik-Professor Peter Grottian, einer unserer engsten Verbündeten, er konnte heute nicht hier sein, schickt uns aber seine besten Grüße. "80 bis 90 Prozent der Betroffenen regeln das allein, leihen sich Geld, verschulden sich. Es herrscht totale Vereinzelung und Verängstigung. Wer Angst hat, seine Wohnung zu verlieren, organisiert keine Demos“, meint Peter Grottian.

Wir zeigen heute, dass das nicht stimmen muß, dass wir sehr wohl gegen diese Bedrohung auf die Straße gehen können und das Unrecht als solches auch benennen.  Darum freue ich mich über die heutige Aktion hier in Bochum und bin der Organisatoren dankbar.

Wir müssen uns wehren! Mit anderen zusammenschließen, die in ähnlicher Lage sind. Zurzeit versuchen wir, ein NRW-weites Netzwerk aufzubauen, die Grundidee ist:

Statt Ich-AG’s – Wir Kollektive.

Wir laden Euch alle ein, mitzumachen, unsere Würde zu behalten, der Enteignung unseres Lebens Einhalt zu gebieten.

 

Die Hoffnung hat zwei schöne Töchter: Wut und Mut

Wut darüber, wie die Verhältnisse sind, und Mut, sie zu bekämpfen!