Donnerstag 18.10.18, 19:10 Uhr
Hubert Schneider schreibt ein weiteres Stück Stadtgeschichte

Ein Tagebuch erinnert an die antijüdischen Pogrome vor 80 Jahren


Der Historiker Dr. Hubert Schneider hat in einem weiteren Buch über das Schicksal der jüdischen BürgerInnen in Bochum in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts seine einzigartige detaillierte Darstellung über die örtlichen Geschehnisse vervollständigt. „Das Tagebuch der Susi Schmerler, eines jüdischen Mädchens aus Bochum“ lautet der Titel des Buches, das er am 30. Oktober um 18 Uhr im Stadtarchiv  und am 16. November auf einer Veranstaltung der VVN-BdA bei DIDF in der Rottstraße 30 vorstellen wird. In einem zeitnahen Dokument des Buches – einem Brief einer Bochumer Jüdin, geschrieben am 3. Dezember 1938 – werden in gebündelter Form die Auswirkungen der verschiedenen antijüdischen Maßnahmen des nationalsozialistischen Regimes in den zwei Wochen zwischen dem 28. Oktober 1938 und dem 9. November 1938 dargestellt:
Die Abschiebung der polnischen und staatenlosen Jüdinnen und Juden am 28. Oktober 1938, die Pogromnacht am 9./10. November 1938 und deren Folgen: Die Zerstörung der Synagoge, die Zerstörung und Verwüstung jüdischen Eigentums, die Verhaftung der jüdischen Männer und deren Verbringung in ein Konzentrationslager bzw. Unterbringung im Bochumer Polizeigefängnis, die gesetzeswidrige Kündigung der Wohnungen jüdischer Familien durch die nichtjüdischen EigentümerInnen. Zurück bleibt eine zutiefst verunsicherte und verzweifelte jüdische Bevölkerung, die nicht weiß, was der nächste Tag bringen, was weiter geschehen wird.
Das Besondere des geplanten Buches liegt u. a. darin, dass hier erstmals versucht wird, in einer Lokalstudie das damalige Geschehen im Zusammenhang mit der sogenannten Polenaktion vom 28. Oktober  1938 in Bochum zu rekonstruieren. In dem bereits genannten Brief werden die Namen aller betroffenen jüdischen Familien genannt – 22  sind es, ca. 70 Personen.
In einem ersten Schritt skizziert das Buch die Vorgeschichte und Durchführung der „Polenaktion“. Wie diese Aktion in Bochum umgesetzt wird, davon berichten die Zeitzeugenberichte der Bochumer Hermann Brecher, Ottilie Schoenewald und Susi Schmerler. Diese Dokumente sind abgedruckt. Im Zentrum des Buches steht das Schicksal der Familie Schmerler. Sie steht auch deshalb im Mittelpunkt, weil die 1923 hier geborene Tochter Susanne, genannt Susi, ein Tagebuch hinterlassen hat, das sie im Zeitraum Anfang 1939 bis 1941 schrieb: Zunächst noch in Deutschland, ab März 1939 in Palästina, wohin sie im März 1939 gekommen war. Es ist ein bemerkenswertes Dokument, in dem ein Anfang 1939 15-jähriges Mädchen, dem alleine die Flucht gelungen ist, ihren Alltag, vor allem aber auch ihre Sorgen und Ängste um die Eltern und den  kleinen Bruder darstellt und reflektiert. Das Tagebuch wird in kommentierter Fassung erstmals veröffentlicht. Veröffentlicht werden erstmals auch die Briefe und Postkarten, die die Eltern, es war vor allem die Mutter Cilly Schmerler, die der Tochter nach der Abreise aus Zbaszyn schrieb, geschickt hat. Im Mittelpunkt dieser Briefe steht natürlich die Sorge um die Tochter, aber immer werden auch die eigenen Sorgen dargestellt: Hat man am Anfang noch Hoffnung, dass es der 1937 in die USA ausgereisten verheirateten ältesten Tochter Fanny gelingen wird, die Familie nachzuholen, schwindet diese Hoffnung immer mehr. Daneben geben die Briefe Auskunft über die Entwicklung der Lebensbedingungen der Juden im Grenzort Zbaszyn. Eine so zeitnahe Darstellung des Geschehens gibt es bisher nicht.
Susi, die sich in Palästina Schulamith nannte, blieb in Palästina/Israel. Sie lebte immer im Kibbuz. Sie heiratete früh, bekam zwei Söhne. Kurz nach der Geburt des zweiten Sohnes kam ihr Mann bei dem der Unabhängigkeitserklärung des Staates Israel folgenden Krieg ums Leben. Mit 26 Jahren und mit 2 Kindern wurde sie Witwe. 1962 heiratete sie noch einmal, bekam noch eine Tochter. 1995 kam Schulamith Nadir mit ihrem zweiten Mann Jochanan für eine Woche nach Bochum. Sie folgte mit 49 anderen Überlebenden der alten Bochumer jüdischen Gemeinde einer Einladung der Stadt Bochum, die auf Initiative des Bürgervereins „Erinnern für die Zukunft“ zustande gekommen war. Bei diesem Besuch lernte Hubert Schneider das Ehepaar Nadir kennen. In der Folge entwickelte sich ein regelmäßiger Briefwechsel, der auch nach dem Tod von Schulamith Nadir 2002 mit ihrem Mann fortgesetzt wurde. 2005 besuchte der Hubert Schneider Israel, traf sich auch mit Jochanan Nadir im Kibbuz Kfar Menachen. Bei dieser Gelegenheit übergab Jochanan Nadir ihm das Tagebuch seiner Frau und alle Briefe und Postkarten, die Susis Eltern aus Zbaszyn an die Tochter geschickt hatte. Ihm war – ganz im Sinne seiner Frau – daran gelegen, dass die Dokumente nicht vernichtet werden, er wollte, dass die Erinnerung an Suis/Schulamiths Eltern Cilly und Moritz Schmerler und den kleinen Bruder Bubi nicht verloren geht. Im Nachlass befanden sich auch zahlreiche Fotos und Texte, die Frau Nadir immer wieder geschrieben hatte, die Auskunft über ihren Lebensweg geben. Sie alle werden hier erstmals veröffentlicht. So wird es möglich, ein angemessenes Lebensbild zu zeichnen.
Den Abschluss des Bandes bildet die Darstellung einiger Lebensgeschichten der im Oktober1939 aus Bochum abgeschobenen Menschen. Berücksichtigt werden dabei die Familien, die im schriftlichen Nachlass Schulamith Nadirs erwähnt werden.