Mittwoch 02.07.14, 20:50 Uhr

Zuwanderung und psychische Gesundheit


Das Sozialpsychiatrischen Kompetenzzentrums Migration – SPKoM Bochum hat am 26. Juni eine Tagung durchgeführt unter dem Titel: „Gastarbeiter“, Flüchtlinge, „Deutschtürken“ Migrationsgeschichte und psychische Gesundheit der Zuwanderer aus der Türkei in Bochum und Umgebung. Die VeranstalterInnen haben einen Bericht über die Tagung veröffentlicht: »Die Zuwanderer aus der Türkei stellen in Deutschland insgesamt und auch in Bochum den größten Anteil an der Gruppe der Menschen mit Zuwanderungsgeschichte. Doch so homogen, wie sich das mal eben schreibt, ist auch die Gruppe der aus der Türkei zu uns gekommenen Menschen keineswegs.

„DIE Türken?“
25-30 verschiedene Ethnien leben in der Türkei. Will man nach religiösem Bekenntnis unterscheiden, findet man neben den großen Gruppen der sunnitischen Muslime , der Aleviten und der schiitischen Muslime auch Christen, Juden, Jeziden sowie eine Vielzahl von kleinen muslimischen Gruppen und Sekten.
In ihrem Referat berichtete Frau Stecher-Breckner vom Kölner Institut zur interkulturellen Öffnung über die Migrationsgeschichte aus der Türkei nach Deutschland mit dem Schwerpunkt auf die Arbeitsmigration. In gewohnt lebendiger Weise schilderte sie die Gründe, die einerseits die im Aufschwung begriffene Bundesrepublik in den 50er und 60er Jahren dazu bewegten, ausländische ArbeiternehmerInnen für die Arbeit in Westdeutschland anzuwerben, und die andererseits mehr als 2 Millionen Menschen allein in der Türkei dazu brachten, sich um eine Arbeitsstelle in Deutschland zu bewerben. Nur 24 % von ihnen wurden schließlich angenommen.

„Formblatt 48 – Auswertungs- und Kontingentsplan nach Berufen und örtlichen Dienststellen“
Eindrucksvoll veranschaulichte Frau Stecher-Breckner das mit deutscher Gründlichkeit durchgeführte Auswahlverfahren, mit dem die Dependance der deutschen Bundesanstalt für Arbeit in der Türkei damals die Angeworbenen auswählte. 15 Stufen galt es zu überwinden, ehe man tatsächlich nach Deutschland geschickt wurde – in überfüllten Nahverkehrszügen, da: „aus technischen Gründen die Sonderzüge aus den dreiachsigen Nahverkehrswagen bis zu 1488 Sitzplätze umfassen könnten, die mit vierachsigen Fernreisewagen aber nur 1088, so dass die alten Wagen auch in dieser Hinsicht … wesentlich wirtschaftlicher“  waren (Zitat aus einem Schreiben der Bundesbahn an die Bundesanstalt f. Arbeit v. 23.11.1964; zit. nach: Eryilmaz, Jamin (Hg.) Fremde Heimat/Yaban silan olur, Ausstellungskatalog Essen 1998).
Etliche, teilweise in erniedrigender Weise durchgeführte Untersuchungen sorgten dafür, dass nur junge, kerngesunde Frauen und Männer kamen.  Die erschwerten Arbeits- und Lebensbedingungen der als ArbeiterInnen nach Deutschland gekommenen Menschen führten dazu, dass deren Gesundheit vielfach Schaden nahm. Heute sind sie deutlich weniger gesund als ihre deutschstämmigen AltersgenossInnen, Langzeitarbeitslosigkeit, Frühverrentung aufgrund von schweren gesundheitlichen Einschränkungen prägen das Leben vieler älterer Zuwanderer aus der Türkei. Neben vielen körperlichen Erkrankungen leiden sie sehr oft an psychischen Erkrankungen, insbesondere Depressionen.

Wenn ich krank bin, so heilt er mich“ (Koran, Sure 26/80)
Über die psychische Gesundheit der Zugewanderten aus der Türkei informierte der Oberarzt und Leiter der türkischsprachigen Institutsambulanz der Klinik Königshof in Krefeld, Dr. Fatih Keskin in einem höchst interessanten und vielseitigen Vortrag. Er beleuchtete den muslimisch-religiösen Hintergrund und das damit zusammenhängende Gesundheitsverständnis, die sich verändernden Familienstrukturen und-werte  und die unterschiedlichen Faktoren, die das Leben als Mensch mit Migrationshintergrund in Deutschland mit sich bringen. Herr Keskin schilderte auch, wie nach dem Volksglauben Abwehrmaßnahmen gegen möglicherweise krankheitsauslösende Einflüsse (Das blaue Auge gegen den Bösen Blick, Talismane oder die Hand der Fatima) getroffen werden. Er betonte, dass der Glaube durchaus auch eine vor Krankheit schützende und stabilisierende Funktion haben kann und gegen den parallelen Besuch von (Fach)arzt und geistlichem Heiler oder Hodscha im Grundsatz nichts einzuwenden sei. Wünschenswert wäre einerseits ein besseres Kulturwissen aufseiten der Ärzte, um z.B. magische Vorstellungen von psychotischem Wahn unterscheiden zu können. Darüber hinaus fehle es bisher an organisierter und qualifizierter Seelsorge durch muslimische Geistliche z.B. in Kliniken.

„Suizidrate junger Türkinnen ist um ein 5-faches höher als bei deutschen weiblichen Jugendlichen“
Ein zusammenfassender Blick auf die häufigsten psychischen Störungen bei Menschen aus der Türkei zeigte, dass die Suizidrate junger Türkinnen um ein 5-faches höher ist, als die der einheimischen Bevölkerung und dass sich psychische Belastung bei  älteren Türkinnen häufig in Form von körperlichen Leiden darstellen. Bei türkischen Jugendlichen sind es vermehrt Süchte (Rauschmittel, Automaten + Wettspiele) und Psychosen; bei türkischen Männern  depressiv -regressive Störungen (z.B. auch Schlafstörungen, Alkoholsucht) die diagnostiziert werden.

Herr Keskin gab auch einen kurzen aber prägnanten Einblick in die Bedingungen der Psychiatrie in der Türkei. Dort finden sich psychische Erkrankungen wie Depression und Schizophrenie sowie der Alkoholmissbrauch unter den zehn ersten Krankheiten, die zu einer Verkürzung der Lebensdauer bei der 15-59-jährigen Bevölkerung führen. Dem gegenüber steht ein Gesundheitssystem, in dem zwei psychiatrische Fachärzte auf 100.000 Einwohner kommen (in Deutschland: 12). Das System der Sozialpsychiatrie ist in der Türkei bisher noch weitgehend unbekannt; eine ambulante Versorgung im sozialen Umfeld gibt es daher so gut wie nicht. Dies führt nach Angaben von Herrn Keskin u.a. auch zu sehr langen, oft mehrjährigen Verweildauern in stationären Einrichtungen, deren Pflege- und Behandlungsstandards mit denen in der hiesigen psychiatrischen Versorgung nicht zu vergleichen ist.

In seinem Fazit zur Situation der Versorgung von hier lebenden Zuwanderern aus der Türkei betonte Dr. Keskin wie wichtig es sei, dass MigrantInnnen gerade in der Behandlung psychischer Störungen die Möglichkeit brauchen, in ihrer Muttersprache kommunizieren zu können. Es sei – wegen der starken Tabuisierung derartiger Erkrankungen – schon ein wichtiger Schritt, wenn sich Betroffene überhaupt an Fachärzte bzw. Psychotherapeut begeben. Begegne ihnen dann eine Person, die sowohl ihre Sprache als auch ihre Kultur versteht, dann stiegen die Heilungschancen. Zeitfressende Umwege, übermäßige diagnostische Maßnahmen und die Chronifizierung der Erkrankung könnten so vermieden werden.

Das Sozialpsychiatrische Kompetenzzentrum – SPKoM Bochum, ist ein Projekt des Vereins Psychosoziale Hilfen Bochum e.V.  und wird von der Aktion Mensch gefördert. Es hat sich die Verbesserung der Teilhabe von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte an den gemeindepsychiatrischen Hilfen zum Ziel gesetzt.

Weitere Informationen auf unserer Homepage: http://www.psh-bochum.de/spkom/«