Dienstag 25.02.14, 20:24 Uhr
Neue Hartz IV-Software „Allegro“:

Kommune und Hartz IV-Parteien
in der Pflicht 1


von Norbert Hermann, Bochum-Prekär
Hartz IV war von Anbeginn an geplant als ein immenser Test, was die Menschen auf beiden Seiten der Schreibtische sich gefallen lassen würden. Im August soll bundesweit eine neue Leistungserbringungssoftware eingeführt werden. Personalräte und Gewerkschaften warnen vor einem „Supergau“ (1). Die intern „eiserne Ladies“ genannten Frauen in der Leitung des Jobcenters und der Bochumer Sozialbehörde und die Vertreter_innen der Hartz IV-Parteien in der Trägerversammlung hätten es in der Hand, dem entgegenzuwirken. Am Mittwoch wird die Personalversammlung des Jobcenters darüber beraten. Am 6. März der Sozialausschuss.

Jobcenter „gemeinsame Einrichtung“
Das Jobcenter ist als „gemeinsame Einrichtung“ trotz des neuen Namens immer noch eine Arbeitsgemeinschaft zwischen der Arbeitsagentur und der Stadt Bochum. Die Trägerversammlung besetzen sie mit je drei Sitzen, bei Stimmengleichheit entscheidet das Wort des/der (turnusmäßig)  wechselnden Vorsitzenden. Der Stellenplan muss zudem jeweils von den Trägern genehmigt werden. (§ 44c-k SGB II).

Dem Vernehmen nach ist es bereits von der Trägerversammlung abgelehnt worden, vom Jobcenter beantragte 30 zusätzliche befristete Stellen für die Übergangsphase zu bewilligen. Sparen ist angesagt, auch auf die Gefahr, dass der bereits fragile soziale Friede erheblich gestört werden könnte. Dabei könnten auch ohne Stellenplanveränderung ganz legal Mittel aus dem Topf für Eingliederungsmaßnahmen umgewidmet werden oder der „Reservetopf“ für Sonderaufgaben eingesetzt werden. Das scheint aber nicht gewollt zu sein. Soll das Elend in der Hartz IV-Umsetzung auf den Gipfel getrieben werden?

Software-Probleme
Software-Problem gab es von Anfang an: Die auch für das Maut-Desaster verantwortliche Firma T-Systems hatte mit „A2LL“ („Arbeitslosengeld II – Leistung zum Lebensunterhalt“) eine Software abgeliefert, die nur durch Umgehungslösungen und „Hintertürchen“ umständlich und mit Verzögerungen ihren Aufgaben teilweise gerecht werden konnte. Vieles muss immer noch mit Stift und Taschenrechner ermittelt werden.

Vor mehr als sechs Jahren schon wurde die Entwicklung einer komplett neuen Software beschlossen. Beauftragt wurde die bewährte Firma „Itech Progress“ (Ludwigshafen/Nürnberg), das Programm erhielt den wohlklingende Namen „ALLEGRO“ (für: ” ALg II LEistungsverfahren GRundsicherung Online“). Seit Dezember ist sie in zwei Jobcentern im Testlauf, im April kommen drei weitere hinzu, und ab August soll sie flächendeckend eingeführt werden. So weit so gut. Wenn da nicht ein ganz großes ABER stehen würde: durch eine neue Datenbanksystematik ist es nicht möglich, über die reinen Stammdaten hinaus weitere Daten aus A2LL nach ALLEGRO „wandern“ zu lassen. Sie müssen umständlich mit der Hand eingegeben werden und auf Vollständigkeit und Richtigkeit überprüft werden. Das nimmt nicht nur pro Bedarfsgemeinschaft durchschnittlich eine Stunde in Anspruch, sondern beinhaltet auch ein hohes Fehlerrisiko. Zudem werden jeweils neue Bedarfsgemeinschaftsnummern zugeteilt, die Handakten müssen umständlich herbeigeschafft und umdeklariert werden. Das dauert … . Und bringt möglicherweise einen Wechsel in den Zuständigkeiten. Zahlungen könnten verzögert werden oder ganz ausfallen.

Das Risiko ist natürlich auch den Verantwortlichen der Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg klar. Zur Sicherheit soll die alte Software noch ein Jahr parallel weiterlaufen. Neue Fälle und die idR halbjährlich anfallenden  Weiterbewilligungen sollen suksessive mit der neuen Software bearbeitet werden. Ein Modell, das sich bereits 2006 bei der Einführung der Leistungssoftware „Colibri“  im Bereich ALG I /SGB III bewährt hat. Im Ansatz nicht schlecht, wenn da nicht die bereits desolate Personalsituation im Jobcenter wäre und der ungeheure zusätzliche Zeitaufwand: 21.000 Bedarfsgemeinschaften in Bochum auf das neue System umzustellen braucht etwa 2.600 ganze Arbeitstage, hinzu kommen je fünf Tage Schulung für etwa 200 Leistungssachbearbeitende, also 1.000 Tage, die bereits angelaufenen zehntägigen Schulungen für die 13 zukünftigen örtlichen Trainer_innen nicht eingerechnet, und der Zeitaufwand für die für Umstellungsphasen bekannten Irritationen und Irrwege. Die gewünschte Anzahl von 30 zusätzlichen Kräften für 6 – 10 Monate ist dabei durchaus zutreffend gerechnet. Aber es soll wohl nicht sein. Bundesweit liegt der Bedarf bei durchschnittlich 3.000 zusätzlichen Personalstellen für die Dauer eines Jahres.

Die Personalsituation im Jobcenter
Die Personalsituation im Jobcenter war ja schon immer ein Desaster: die Fallzahl pro Mitarbeitenden unrealistisch hoch, der auf dieser Basis ermittelte Umfang des Personalkörpers nie erreicht, der Krankenstand enorm, die Fluktuation ebenso. Ersatz wird zum Teil geschaffen mit Kräften der Stadt, deren Arbeitsplatz „eingespart“ worden ist. Oftmals waren sie bis dahin nicht mit Rechtsfragen und/oder intimen menschlichen Problemen konfrontiert. Viele „Quereinsteigende“ verfügen nicht einmal über eine Verwaltungsausbildung, geschweige denn über die unbedingt nötige psychosoziale Beratungskompetenz. Immer noch gibt es befristete Stellen. Das alles mit der Folge, „dass unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit der Aufgabe der SGB II-Leistungsgewährung teilweise überfordert sind“, stellt die AG „Leistungsrecht“ in der LAG JC NRW“ fest (2). Und das „Bundesnetzwerk Jobcenter“ spricht gar von „zunehmend demotiviertem Personal, nachlassender Dienstleistungsqualität, schlechtem Image“ und „sinkender Leistungsfähigkeit“, was zu einer „massiven Destabilisierung des Systems insgesamt führt“. Es entstehe „ein Abwärtssog, in den alle hineingerissen werden – Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Kunden … “. Mit einer „schleichenden Auszehrung der Arbeitsbedingungen von Jobcentern … können aus ihnen sehr schnell Problemzonen für den sozialen Frieden werden.“ (3) Die Gewerkschaft „Komba“ beklagt einen „historischen Tiefstand“ bei der Motivation. Und dann erdreisten sie sich noch, den Zeigefinger zu erheben und Sanktionen zu verteilen! Die Jobcenter werden von Betroffenen als „rechtsfreier Raum“ erlebt, in denen nicht einmal das Un-„Recht“ des Hartz IV-Gesetzes etwas gilt.

Positionen und Aufgaben der Politik
GRÜNE und SPD beteuern zwar, dass sie Hartz IV „so nicht“ gewollt hätten. In der Praxis tun sie aber nichts dafür, dass zumindest die Umsetzung in Bochum sich verbessert. Dankenswerterweise sucht die Ratsfraktion der LINKEn immer wieder den Kontakt mit dem Personalrat des Jobcenters (4,5). Der hat zwar Kritik an manchen Mängeln, ist aber prinzipiell mit dem System Hartz IV, auch mit dem Sanktionsregime, einverstanden (6). Die Zahl der erfolgreichen Widersprüche und Klagen bleibt hoch, die Zahl der durch eine einfache „Beschwerde“ berichtigten Fehler ist unzählbar. Politik, Jobcenter-Geschäftsführungen und Mitarbeiterschaft arbeiten an weiteren Verschärfungen der Hartz IV-Gesetzgebung (7).

Was wir daher vermissen: obwohl die Linkspartei ihr Entstehen und einen Teil ihrer Wahlstimmen der Agenda 2010 und dem Thema Hartz verdankt, ist es noch nicht vorgekommen, dass sie jemals auf die aktiven Erwerbslosen in Bochum zugegangen wären.

Und den Kolleginnen und Kollegen im Jobcenter sei ins Stammbuch geschrieben, was meine Oma immer zu sagen pflegte: „Sowas tut man (auch frau) nicht!“

Mitarbeitende, Geschäftsführungen, Personalräte der Jobcenter halten die Maschinerie am Laufen. Wer noch über (Arbeitsamts-) „Berufsethos“ verfügt oder sonstwie „anständig“  ist, sieht zu, dass er/sie wegkommt oder sich im Amt eine Nische sucht. Was bleibt ist großteils negative Auslese von „Alten“ oder unverschämte Junge oder Ahnungslose mit Zeitvertrag. Wenn sie nicht selbst zu Tätern  und Täterinnen werden, so werden sie doch mitschuldig durch wegschauen oder durch Nichtstun.” (8)

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Antwort des Jobcenter Bochum vom 8.11.2013  auf eine Anfrage von Bochum-Prekär:

Wie sehen die Vorbereitungen beim Jobcenter Bochum aus?

Der Start zur Einführung von ALLEGRO in den gemeinsamen Einrichtungen wird bundesweit im Sommer 2014 erfolgen. Die Gesamtprojektplanung inklusive des Umstellungszeitplanes liegt in der Verantwortung der Bundesagentur für Arbeit.

Als Jobcenter Bochum liegt es in unserer Verantwortung, vor Ort die entsprechenden Maßnahmen zu ergreifen, um einen reibungslosen Start von ALLEGRO zu gewährleisten.

Hierfür hat das Jobcenter Bochum eine interne Steuerungsgruppe gebildet, die den gesamten Prozess plant und die einzelnen Schritte koordiniert. Zu den Hauptaufgaben zählen
·       der regelmäßige und offene Dialog mit den zuständigen Stellen der Bundesagentur
·       die zeitnahe und transparente Information der Jobcenter-Mitarbeiter
·       die Organisation des internen Schulungsprozesses, in dem alle Mitarbeiter aus den Leistungsabteilungen umfassend auf die Arbeit mit der Software vorbereitet werden.

Wie weit sind sie gediehen?

Das Jobcenter Bochum liegt bei allen Vorbereitungen voll im Zeitplan.

Wie viel Personal wird für die Eingabe- und Übergangsphase zusätzlich zur Verfügung gestellt?

Zum jetzigen Zeitpunkt ist keine Einstellung zusätzlichen Personals geplant.

Wie sind diese Leute qualifiziert?

s.o.

Wie werden die Mitarbeitenden des JC Bochum geschult?

In einem ersten Schritt werden innerhalb des Jobcenter Bochum sogenannte Trainerinnen und Trainer ausgewählt, die dann zentral durch die Regionaldirektion der Bundesagentur für Arbeit geschult werden.

Anschließend schulen diese Trainerinnen und Trainer dann Jobcenter-intern die so genannten Hauptanwenderinnen und Hauptanwender, sprich alle Mitarbeiter in den Leistungsabteilungen. Die Trainerinnen und Trainer stehen zudem während des gesamten Einführungsprozesses als kompetente Ansprechpartner vor Ort zur Verfügung.

Welche „Notlösungen“ haben Sie in der Hinterhand für immer mögliche Leistungs- und Bearbeitungsausfälle?

Die Umstellung auf ALLEGRO wird individuell und sukzessiv erfolgen.

Individuell heißt, dass ein Mitarbeiter erst nach umfassender Schulung die Freigabe zur Nutzung von ALLEGRO erhält.

Sukzessiv bedeutet, dass die Umstellung aller Fälle schrittweise über mehrere Monate erfolgt. Mit Beginn der Nutzung von ALLEGRO werden alle eingehenden Erstanträge mit der neuen Software erfasst. Bereits laufende Fälle werden dann im Rahmen der Bearbeitung der Weiterbildungsanträge umgestellt. Zudem wird das bislang genutzte Verfahren A2LL weiterhin solange für die Berechnung und Auszahlung von Leistungsansprüchen nutzbar sein, bis alle Leistungsfälle in ALLEGRO eingegeben und „zahlbar“ sind.

Eine große Zahl an Leistungs- und Bearbeitungsausfällen ist daher nicht zu erwarten.

Für die von Ihnen angesprochenen, immer möglichen Leistungs- und Bearbeitungsausfälle gibt es bereits jetzt entsprechende, kurzfristige Lösungen. Daran ändert sich nichts.

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(1) Peter  Nowak bei telepolis 14-02-01: Supergau bei Software-Umstellung
http://www.heise.de/tp/blogs/8/155777 (mit vielen weiterführenden Links)

(2) Ausarbeitung der Arbeitsgruppe „Leistungsrecht“ in der Landesarbeitsgemeinschaft Jobcenter Nordrhein-Westfalen, S. 15, in:

(3) Jobcenter der Zukunft
Entwicklungsnotwendigkeiten der Jobcenter aus Sicht der Geschäftsführerinnen und Geschäftsführer. Stellungnahme des Bundesnetzwerks Jobcenter, S. 4;
http://www.sgb-ii.net/portal/material_aktuell/JOBCENTER_der_Zukunft_22-01-2014.pdf/at_download/file

(4) https://www.bo-alternativ.de/2014/02/11/vorprogrammiertes-chaos-im-jobcenter/

(5)  http://www.linksfraktion-bochum.de/fileadmin/lcmslfbochum/Anfragen/2014/140211_Anfrage_Jobcenter_ALLEGRO_-_HFA_12-02-2014.pdf

(6) Karin Richter-Pietsch, Personalratsvorsitzende des Jobcenter Bochum, verteidigt auf dem ver.di-Bundeskongress 2011 (erfolglos) das Vorgehen ihrer Kolleg_innen.
https://www.verdi.de/++file++5073a212deb5011af9001b10/download/Protokollteil%2023%20-%20Fr-23-09-2011_1628-1916.pdf S. 3 ff

(7) Vorschläge der Arbeits- und Sozialministerkonferenz (AMSK; sog. „Rechts- und Verwaltungsvereinfachung“).
http://www.soziales.bremen.de/sixcms/media.php/13/Rechtsvereinfachung+im+SGB+II.38245.pdf
oder hier:
http://www.harald-thome.de/media/files/ASMK-Rechtsvereinfachungen-SGB-II—27.09.2013.pdf

Stellungnahme Harald Thomé dazu:
http://www.harald-thome.de/media/files/Bewertung-der-Konsense-ASMK-19.02.2014-HT.doc.pdf

(8) http://www.labournet.de/politik/erwerbslos/inside/ver-di-fachtagung-gewalt-im-jobcenter/

Folien der  Regionaldirektion Sachsen-Anhalt-Thüringen zur Einführung von Allegro.

Norbert Hermann für Bochum-Prekär; Bochum-prekaer@t-online.de, 25.02.2014


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