Sonntag, 8.September 2013, Bochum, Friedhof Freigrafendamm
Sonntag 08.09.13, 21:35 Uhr
Ansprache von Gudrun Müller, Geschäftsführerin ver.di Bezirk Bochum-Herne

Gedenktag für die Opfer des Faschismus


Liebe Kolleginnen und Kollegen,
Freundinnen und Freunde,

vor 80 Jahren wurde Adolf Hitler durch den Reichspräsidenten Paul von Hindenburg zum Reichskanzler ernannt.
Etwa zu dieser Zeit, feierten die SA-Kolonnen in triumphalen Fackelzügen in Berlin – auch in Bochum und vielen anderen deutschen Städten die Machtübertragung auf die Faschisten.
In Bochum, Wattenscheid, Herne und Wanne-Eickel strömten die Menschen auf die Straße und es kam zu handfesten Auseinandersetzungen zwischen Nazis und Angehörigen der Arbeiterparteien und der Gewerkschaften.
Hier, im Herzen des Ruhrgebiets stießen die Nazis immer noch auf breitere Ablehnung.
Bis zum Januar 1933 waren die Wohngebiete der örtlichen Arbeiterschaft, besonders die Kolonien der Bergarbeiterfamilien, die Schachtanlagen und Betriebe uneinnehmbare Festungen.
Das hatten die braunen Horden, in den Jahren zuvor immer wieder zu spüren bekommen.
Mit dem 30. Januar – vor 80 Jahren – waren aber alle Dämme gerissen.
Binnen weniger Monate

  • war die Republik vernichtet,
  • war die 1919 – im Ergebnis der Novemberrevolution beschlossene und in der Märzrevolution von 1920 – noch erfolgreich verteidigte – Verfassung liquidiert,
  • ar die KPD und SPD verboten,
  • waren die Gewerkschaften zerschlagen und gleichgeschaltet.

Erste – zunächst noch provisorische – Konzentrationslager wurden errichtet.
Zuchthäuser und Gefängnisse wie das Bochumer Polizeigefängnis oder das Herner Hafthaus waren überbelegt mit politischen Gegnern aus der Arbeiterbewegung.
Die Verfolgung der Juden setzte ein. Die Verfolgung

  • der Sinti und Roma,
  • der Bibelforscher und
  • Homosexuellen
  • und weiterer Minderheiten, die nicht ins Bild der selbsternannten Herrenmenschen passten, schloss sich an.

Erinnerungen von Paul Brauer/ Gesprochen von Norbert Arndt, ver.di:
Paul Brauer, Bergmann auf der Zeche Shamrock berichtete über die Tage im Januar/Februar 1933:
Die Nazi-Strolche haben bei mir Haussuchung gemacht. Die traten mit ihren Stiefeln die Tür ein und schrien: Komm raus du roter Hund, wir legen dich um! (…)
Alle paar Tage schleppten die braunen Banditen mich dann in ihre Folterkeller.
In die Mozartstraße. Da wurde ich beschimpft und geschlagen.
In der Diesterwegschule im Keller schnallten sie mich über den Bock und schlugen mich grausam zusammen. Die schlugen mit Fäusten, Knüppeln, Koppel, mit Ochsenziemer und Schlagringen auf alle Körperteile!
Dann in der Gelsenkircherstraße 25 bei der Gestapo. Verhöre und immer wieder Verhöre, blutig geschlagen ließ man mich zunächst wieder laufen.“

Einige Tage später

Am späten Nachmittag holte man mich aus der Wohnung. Zwei Zivile und zwei von der Polizei. Kurz vor dem Rathaus in Wanne hörte ich schon die Schreie der Gefolterten.
Dann brachten sie mich ins Rathaus.
Wie ich vom Auto absteige, bekomm ich einen Tritt in den Rücken und einen Schlag ins Gesicht, dass ich die Treppe in den Keller hinunterstürze. Die haben mich dann hochgerissen und in den Keller gezerrt.
Dann haben sie mich auf den Tisch geworfen. Zwei Mann am Kopfende haben mich auf die Platte gedrückt und die Arme festgehalten. Die anderen haben mit langen Gummiknüppeln und Ochsenziemern geschlagen. Die haben weiter geschlagen bis ich besinnungslos war.
Wie ich wach wurde, lag ich in einer Zelle auf einer Matte und hatte einen nassen Kopf. Ich nehme an, die haben mich mit Wasser begossen.
Zuerst hörte ich wieder furchtbares Schreien. Wie das Schreien aufhörte, wurde die Tür der Zelle aufgestoßen und ich hörte meinen Namen. Brauer! hörte ich rufen.
Dann rissen mich zwei von den Schergen hoch und führten mich durch den Gang wieder zum Folterraum.
Da haben die mich wieder auf den Tisch geworfen und geschlagen. Einer rief immer: Drauf hauen, drauf hauen, kaputt hauen!
Mir lief das Blut aus Mund und Nase. Die hatten mir das Nasenbein eingeschlagen und alle Zähne waren lose. Aber sie haben weiter geschlagen, bis ich wieder ohnmächtig wurde.
Als sie mich das dritte Mal aus der Zelle holten haben sie mich an den Haaren gerissen. Einer hat mir in den Sack getreten. So feste getreten, dass ich sofort umfiel.
In der Zelle, auf der nassen Matte kam ich wieder zu mir. Die wenigen Genossen die noch in der Zelle waren, sprachen mir Mut zu, –im Angesicht des eigenen Grauens–, das ihnen selbst noch bevorstand.
Dann holten mich die Sadisten wieder in ihren Behandlungsraum zur Sonderbehandlung, wie sie es nannten. Und wieder die gleichen Fragen. Ich konnte nicht mehr sprechen. Die schlugen mir so auf den Kopf das ich wieder zusammenbrach.
Auf den Knien habe ich gebettelt,
erschießt mich doch–, erschießt mich doch–, ich halte das nicht mehr aus!
Da haben sie ihren Spaß mit mir getrieben. Schläge und Tritte versetzten sie mir, wo sie nur hin trafen. Gegrölt und gelacht haben sie dabei.“

Soweit die bewegenden Erinnerungen des Bergmanns Paul Brauer aus Wanne-Eickel.
Was diesem Antifaschisten in diesen Tagen und Wochen – vor 80 Jahren – widerfuhr, war kein Einzelfall – sondern steht exemplarisch für die Verfolgung und Folter hunderter Arbeiter aus Bochum, Wattenscheid, Herne und Wanne-Eickel.
Männer und Frauen, Alte und Junge gingen diesen Golgatha-Weg.
Den von den ersten Verhaftungswellen Betroffenen – und ihrem Umfeld war bekannt, dass die Gefangenen in den Folterkellern und auf den Polizeiwachen in Bochum, Herne, Wanne-Eickel, Gelsenkirchen und in der berüchtigten Dortmunder Steinwache bestialisch gefoltert wurden.
Das war also durchaus bekannt und sprach sich in den Städten, auf den Schachtanlagen und in den Betrieben herum. Schließlich handelte es sich vielfach um exponierte und bekannte Interessenvertreter, Betriebsräte und Gewerkschafter.
Nachdem am 2. Mai 1933 die Nazis die Gewerkschaftshäuser besetzten, wurden zahlreiche haupt- und ehrenamtliche Gewerkschaftsfunktionäre erneut verhaftet und durch die unmenschliche Mangel der Nazis gedreht.
Die Aktivisten der Gewerkschaften und der Arbeiterparteien waren „vogelfrei“ und schutzlos dem sadistischen Terror der Faschisten ausgesetzt.

In einem Klima der

  • Angst und Einschüchterung,
  • der Anpassung,
  • des Wegsehens und Weghörens

haben gewiss manche verzagt und ließen sich brechen. Einige liefen über zum Feind und verrieten ihre ursprünglichen Überzeugungen und Ideale.
Es gab aber auch diejenigen in unserer Stadt, die in den unterschiedlichsten Formen widerstanden und den Nazis die Stirn boten.
Es gab in den 12 Jahren der Barbarei aktiven Widerstand in unseren Städten. Manchmal abgebrochen, manchmal aber nur unterbrochen.
Das ist eine Tatsache! Und wir haben allen Grund – und sind es den Widerstandskämpfern auch schuldig – das in Erinnerung zu rufen und dort zu behalten.
Viele der Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfer wurden in den Folgejahren wegen Vorbereitung zum Hochverrat (wie es damals hieß) abgeurteilt, in Zuchthäuser und Konzentrationslager oder ins Strafbataillon 999 verschleppt.
Von einigen wissen wir, dass sie selbst noch unter diesen Bedingungen im KZ oder Zuchthaus – im Rahmen des Möglichen – und unter steter Lebensgefahr Widerstand leisteten.
Manchen aus der örtlichen Arbeiterbewegung gelang es zunächst unterzutauchen.

Einige beteiligten sich 1936 in den Internationalen Brigaden am Befreiungskampf des spanischen Volkes oder am Widerstand in anderen europäischen Ländern. Viele — sehr viele aus unserer Stadt gingen im Lager oder im Zuchthaus elend zu Grunde und kehrten nie wieder nach Bochum, Wattenscheid, Herne oder Wanne-Eickel, zu ihren Familien zurück.

Liebe Kolleginnen und Kollegen,
wenn Erinnerung und ernstgemeintes Gedenken sich nicht in geschichtlichen Betroffenheitsübungen erschöpfen sollen, dann ist nach den Schlussfolgerungen und den zu ziehenden Lehren zu fragen:

  • Dem organisierten Neonazismus unserer Tage müssen wir uns in all seinen Schattierungen in den Weg stellen!
  • Die NPD und andere faschistische Organisationen sind zu verbieten und die staatliche Alimentierung zu entziehen!
  • Die im Zusammenhang mit den Untersuchungen der NSU-Morde und Umtriebe offenbar gewordene (verdeckte) Kollaboration zwischen Rechtsextremisten, Geheimdiensten und anderen staatlichen Stellen muss ausgetrocknet werden!

Wer sich den marschierenden Nazis unserer Tage entgegenstellt, beweist Mut und handelt richtig!
Wer allerdings seine Kräfte in dieser Konfrontation verbraucht und seinen Blick darauf beschränkt, verliert die Fähigkeit, jenen antidemokratischen Tendenzen entgegenzuwirken, die in der vom Kapital beherrschten Gesellschaft bereits chronisch sind!
Wir müssen auch den Blick richten auf die rasant zunehmende

  • soziale Spaltung der Gesellschaft,
  • die wachsende Verarmung breiter Bevölkerungsschichten,
  • der Rückbau der kommunalen Daseinsvorsorge und
  • die größer werdende Schere zwischen Armen und Reichen
  • die Hetze gegen die Völker in den sogenannten „Schuldnerländern“ in der EU-Finanzkrise
  • die Hetze gegen Flüchtlinge, die in unserem Land Schutz suchen.

Diese Tendenzen sind schleichendes Gift und müssen als Nährboden für Alltagsrassismus, Fremdenfeindlichkeit und rechtsextreme Einstellungen erkannt und bekämpft werden!

Nicht abfinden dürfen wir uns mit der

  • zunehmenden Militarisierung und Aufrüstung Deutschlands,
  • mit der aktiven (offenen oder verdeckten) Beteiligung der Bundeswehr an immer neuen Kriegen,
  • mit dem Einsatz der Bundeswehr im Innern,
  • mit einer Spitzenstellung Deutschlands als Waffenexporteur!

Und wir haben kritisch zu hinterfragen, dass in Schulen, Universitäten und Betrieben nicht Eigensinn und ziviler Ungehorsam vermittelt und eingeübt werden, sondern unkritisches Pauken und Aufgabenlösen für Noten und Numerus Clausus!
Ich meine:
Zu den Lehren aus den 12 Jahren der Nazi-Barbarei gehört doch schließlich, dass

  • Gleichgültigkeit,
  • Wegsehen,
  • Untertänigkeit,
  • Opportunismus und
  • Mitläufertum

immer fatale Folgen zeitigen.
Zukunftstaugliche Erinnerung – wie wir sie verstehen – sorgt für Zivilcourage und Verantwortungsbereitschaft.
Liebe Freundinnen und Freunde,
eine gleich anschließende Minute des schweigenden Gedenkens für alle, die im Kampf gegen den Faschismus ihr Leben ließen und gefallen sind oder zu seinen wehrlosen Opfern wurden, schließt unseren eindringlichen Aufruf zum kritischen Eingreifen, zum sozialen Protest und gesellschaftlichen Aufruhr unbedingt mit ein!
Und was liegt da näher, als Euch in diesem Sinne – abschließend herzlich zu bitten, die verbleibenden Tage aktiv zu nutzen, um am kommenden Samstag, 14. September, tausende Teilnehmerinnen und Teilnehmer für die UMfairTEILUNG des gesellschaftlichen Reichtums auf die Straße zu bringen.