Offener Brief von Dr. Ralf Feldmann an die Schulministerin
Montag 05.12.11, 13:52 Uhr

Sanktionen gegen SchülerInnen in Bochum nach Teilnahme an der Bildungsstreik-Demonstration


Sehr geehrte Frau Ministerin,
Bochumer Schulleitungen reagieren auf die Teilnahme von Schülerinnen und Schülern an der Bildungsstreik-Demonstration am 17. November mit Repressionen. Die Bochumer Stadt- und Studierendenzeitung (BSZ) berichtet in ihrer Ausgabe vom 30.11.2011, dass das Fernbleiben vom Unterricht als unentschuldigtes Fehlen vermerkt wird. Es ist zu befürchten, dass demnächst die Stunden unentschuldigten Fehlens auf den Abgangszeugnissen der 10. Klassen erscheinen. Damit, so der BezirksschülerInnensprecher Jonathan Röder, „versaut einem die Schulleitung potentiell die Zukunft“.
Der Schulleiter der Maria Sibylla Merian-Gesamtschule in Wattenscheid wird mit den Worten zitiert: “Das Schulgesetz NRW lässt uns keine andere Wahl, daran müssen wir uns halten“ Die Teilnahme an einem Schulstreik sei kein Entschuldigungsgrund. Damit folgt er offenbar einer Information und Rechtsauskunft, die die Bezirksregierung Arnsberg vor dem Schulstreik im Sommer diesen Jahres in Abstimmung mit Ihrem Ministerium an die Schulen weitergeleitet hatte. Danach sei jegliche Teilnahme an einem Schulstreik ein Verstoß gegen die Schulpflicht und deshalb rechtswidrig. Immerhin berichtet die BSZ auch darüber, dass in Köln ganze Klassen an der dortigen Bildungsstreik-Demo teilgenommen hätten – ohne Androhung von Repressionen. Und Christoph Söbbeler, der Sprecher der Bezirksregierung Arnsberg scheint die Rechtslage inzwischen anders zu bewerten, wenn er darauf hinweist, dass Schulen durchaus ihren SchülerInnen die Teilnahme an einzelnen Gedenkveranstaltungen und Demonstrationen auch während der Schulzeit ermöglichen könnten. Es sei jedoch Sache der einzelnen Schule, wie sie ihren pädagogischen Spielraum nutze.
Ich denke, nicht nur pädagogisches sondern ebenso sehr rechtliches Nachdenken tut not. Der Kurzschluss von der im Schulgesetz auf der Ebene des einfachen Rechts normierten Schulpflicht auf ein generelles Verbot, während der Unterrichtszeit an einem Schulstreik teilzunehmen, hält nämlich näherer rechtlicher Prüfung nicht stand. Denn gegen die Pflicht zum regelmäßigen Schulbesuch stehen auf Seiten der Schüler die Grundrechte der Versammlungs- und Meinungsfreiheit (Art. 8 und 5 GG). Ein Kernelement dieser demokratischen Urrechte ist das Recht, die Art und Weise einer Meinungskundgebung selbst zu bestimmen und dabei eine Form zu wählen, die Aufsehen erregt und möglichst effektiv ist. Ein Bildungsstreik während des Unterrichts hat nun einmal die Chance einer Fernsehberichterstattung, die Demo nach dem Unterricht wird eher  hinten in der Lokalzeitung notiert werden. Die Grundrechtsmündigkeit von Schülerinnen und Schülern für die beiden demokratischen Urrechte – immerhin dürfen sie inzwischen mit 16 Jahren bei Kommunalwahlen wählen – kann nicht zweifelhaft sein. Auch wenn man der Schulpflicht angesichts der staatlichen Bildungsverantwortung gemäß Art 7 GG ebenfalls Verfassungsrang einräumen will, folgt daraus im Verhältnis zur Versammlungsfreiheit kein Vorrang. Nach gängiger Verfassungsauslegung sind vielmehr beide Prinzipien in praktischer Konkordanz so in Einklang zu bringen, dass die rechtliche Bewertung des Einzelfalles beiden gerecht wird.
Diese Überlegungen müssen Schulleitungen anstellen, wenn sie gemäß § 43 Schulgesetz ihr Ermessen ausüben, ob sie SchülerInnen für die Teilnahme an einer Schulstreik-Demonstration beurlauben können. Dabei ist der in § 2 Schulgesetz umschriebene Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule als leitendes Ermessenskriterium heranzuziehen. Nach § 2 Abs.5 Nr.5 Schulgesetz sollen Schülerinnen und Schüler lernen, die grundlegenden Normen des Grundgesetzes und der Landesverfassung zu verstehen und für die Demokratie einzutreten.
Die zeitweise Beurlaubung von der Schulpflicht zur Ein- und Ausübung demokratischer Urrechte ist  learning by doing und bringt nicht nur gegenläufige Rechtsprinzipien, sondern auch Recht und Pädagogik zu wunderschöner praktischer Konkordanz. Da es um die eigene Grundrechtsmündigkeit der Jugendlichen geht – dies sollte anlog zur Grundrechtsmündigkeit in Religionsfragen beurteilt werden – , kommt es jedenfalls bei älteren SchülerInnen nicht auf einen Unterrichtsbefreiungsantrag der Eltern an. Vor diesem Hintergrund können die bisherigen praktischen Beispiele von Schulstreik-Demonstrationen nicht als rechtswidrige Pflichtverstöße der teilnehmenden Schülerinnen und Schüler bewertet und bestraft werden.
Das zeitlich begrenzte Unterrichtsversäumnis behinderte die schulischen Bildungsabläufe so gut wie gar nicht, dafür wurde das Lernziel Demokratie mit schönen Teilerfolgen erreicht.
Wenn ich die früheren Hinweise der Bezirksregierung Arnsberg mit dem jetzigen Zitat des dortigen Pressesprechers Söbbeler vergleiche, dann bin ich fast schon so optimistisch anzunehmen, dass dem ein rechtliches und pädagogisches Umdenken bei Ihnen und in Ihrem Ministerium vorangegangen ist, ohne dass dies bisher öffentlich deutlich kommuniziert worden wäre. In Bochum wurde jedenfalls weiterhin mit einem Eintrag ins Klassenbuch reagiert und anfangs sogar an Nachsitzen gedacht. Ich fordere Sie deshalb dringend auf, den Schulleitungen für die Zukunft eine klare am Recht orientierte Handreichung für ähnliche Anlässe zu geben. Vor allem erwarte ich, dass Sie auf die Schulleitungen Einfluss nehmen, den Schülerinnen und Schülern wegen der Wahrnehmung demokratischer Grundrechte nicht „die Zukunft zu versauen“.
Ich will es nicht bei einem rechtlichen Kommentar belassen. Auch wenn ich aus dem letzten Landtagswahlkampf gerade Ihre Offenheit zur rechten bürgerlichen Mitte schlecht in Erinnerung habe, kann ich mir  immer noch nicht vorstellen, dass eine grüne, in ihrem früheren Berufsleben gewerkschaftlich engagierte Schulministerin die Lernziele Anpassung und Gehorsam – wilhelminisch regressiv, aber den Märkten geschuldet – über das Lernziel Demokratie stellen könnte. Als Gewerkschafterin kennen und schätzen Sie in wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Konflikten das unverzichtbare, oft viel zu schwache Kampfmittel derer, die sonst wenig oder nichts haben: Versammlungsfreiheit und Streik. Sorgen Sie dafür, dass sich Schülerinnen und Schüler in einem demokratischen Schulsystem darin üben können.

Mit freundlichem Gruß

Ralf Feldmann
Mitglied der Fraktion DIE LINKE im Rat der Stadt Bochum
und des Ausschusses für Bildung und Wissenschaften