Dienstag 14.12.10, 20:48 Uhr

Exorbitante Weihnachtslesung an der RUB


Es hätte ein langweiliger Abend bleiben können – doch zum Glück hatte sich das Ministerium für Innovation, Wissenschaft und Forschung NRW im Vorfeld der gestrigen Weihnachtsfeier des RUB-Rektorats, zu der auch akademische Prominenz aus dem ganzen Land geladen war, für ein höchst politisches satirisches Begleitprogramm entschieden. Die Treibgut-Literaturaktivisten Philipp Dorok und Uli Schröder würzten das Buffet, an dem sich zahlreiche Rektor_innen diverser NRW-Hochschulen, Wissenschaftsministerin Svenja Schulze sowie RUB-Rektor Elmar Weiler labten, mit einer geballten Portion exorbitanter Satire. So erwies sich der reichlich mit kulinarischer Motivik angereicherte Versuch einer Campussanierung bei Philipp Dorok schließlich als zusammenstürzendes potemkinsches Lebkuchendorf. Uli Schröder wagte am Ende gar den Balanceakt, dem erlesenen Publikum seine in der ursprünglichen Fassung auch in Buchform vorliegende Satire auf die bundesweite universitäre Exzellenzinitiative darzubieten – und hatte damit unerwartet großen Erfolg: So wurde die Weihnachtsedition seines „postmodernen Märchens frei nach Foucault“ nicht nur von der Ministerin bejubelt, sondern auch der/die eine oder andere Hochschulrektor_in wollte nach der Lesung die gedruckte Fassung von „Exorbitanz und Wahnsinn“ mit nach Hause nehmen. RUB-Rektor Weiler dagegen zog es vor, sich nach dem Vortrag nicht im Foyer des Veranstaltungszentrums unter der Mensa blicken zu lassen, wo die Künstler sowie zwei AStA-Vertreter_innen, die nur bis zur Tür des Festsaals vorgelassen worden waren, noch angeregt mit der Ministerin über eine möglichst baldige Abschaffung von Studiengebühren diskutierten. Für alle, die gestern nicht eingeladen waren, gibt es Uli Schröders Text hier gratis und umsonst…

Meine Damen und Herren, Sie hören ein postmodernes Märchen,
frei nach Foucault…
Exorbitanz und Wahnsinn
Der Wagen der U53, der an diesem vorweihnachtlich verschneiten Morgen des 6. Dezember die Haltestelle Marxstraße erreicht, platzt aus allen Nähten. Immer noch schickt die RoBuSta – Rohrstadt Bus und Straßenbahn – selbst in der rush hour regelmäßig Kurzzüge auf den Schienenweg zur größten Akademie der Metropole. Spontan beschließt Nemo, diesen Weg heute zu Fuß zurückzulegen.
Immerhin haben sie am Klang der hier überirdisch verkehrenden U-Bahn gefeilt: Seitdem ein multinationaler Konzern zur Wartung von Schienensträngen die Gleise mit einem unzählige Tonnen schweren ‚Schleifwagen‘ malträtiert hat, wird das bisher eher unauffällige Fahrgeräusch von einem sonoren Summen und Rattern durchdrungen – was nicht nur für ein satteres Soundvolumen sorgt: Vielmehr wird durch den fülligeren Klang der Bahn ein internationales Flair suggeriert, welches aufmerksame Reisende bislang nur aus jenen Ländern kennen, wo private Schienennetzbetreiber schon seit Jahren am Werke sind, um nicht nur die ökonomische Effizienz des Bahnbetriebs zu steigern, sondern die Nutzung des Schienenverkehrs gar als Gipfelpunkt ästhetischen Genusses aufzuwerten. (Steigende Unfallzahlen als Begleiterscheinung des Privatisierungsprozesses sollen an dieser Stelle unkommentiert bleiben.) Und seitdem die Vorzeige-U-Bahn der Rohrstadt-Metropole fast genauso klingt wie die New Yorker Subway oder die Londoner Tube, ist auch der stets um internationales Profil bemühte Präsident der – wie es hinter vorgehaltener Hand schon lange heißt – größten anzunehmenden Universität der Rohrstadt voll des prallen Lobes über die „Klangreform“ der U53, welche ja nicht zuletzt auch als willkommene Begleitmusik der konzertierten Aktion der aktuellen Exorbitanz-Initiative aufgefaßt werden könne, deren Dirigent er schließlich sei. Ja, der Arm des Hochschulpräsidenten reicht weit: Nicht nur die vorzugsweise naturwissenschaftlichen Elite-cluster auf dem eigenen campus, jene Keimzellen seines künftigen centers of exorbitance, scheinen ihm direkt zu unterstehen, sondern auch auf der Klaviatur der uninahen Infrastruktur läßt er offensichtlich und – zur rush hour im 5-Minuten-Takt – für alle hörbar virtuos seine Finger spielen. Mit einem selbstzufriedenen Lächeln lehnt sich der höchste Repräsentant der größten anzunehmenden Universität in seinen Ledersessel zurück und hält noch einmal kurz inne, bevor er sich in Richtung des größten real existierenden Hörsaals begibt, wo er am Nikolaus-Tag aus den Händen des Zukunftsministers persönlich die Weihen der Exorbitanz empfangen will. Sollen die Ketzer da draußen die geweihten Gewölbe der Rohrstadt-Akademie ruhig immer noch GAU nennen, sollen sie nur – er würde es heute allen zeigen, er würde sie lehren, die heiligen Hallen des Exorbitanz-Zentrums zu verehren wie einen Leuchtturm der Wissenschaft inmitten des Nebels der Unwissenheit und Ignoranz, ja wie einen allesüberstrahlenden Sakralbau im heidnischen Niemandsland, eine Kathedrale im gottlosen Nirwana.
Derweil erreicht Nemo gerade die nach einem ehemaligen Oberbürgermeister der längst in die Rohrstadt eingemeindeten Kommune benannte, scheinbar endlose Betonbrücke über die sechsspurige Akademiestraße, wo ihm wie fast jeden Tag ein schneidender Wind ins Gesicht weht. Noch am Wochenende ließ der Hochschulpräsident auch den letzten Fetzen jener Plakate entfernen, die hier sonst zumeist für Kulturveranstaltungen oder politische Anliegen warben. Die Akademiebrücke wirkt nun noch steriler als sonst. Erst auf den zweiten Blick fällt auf, daß ihr offensichtlich auch ein neuer Anstrich verpaßt worden ist – das Grau ist noch eine winzige Nuance gräulicher geworden als sonst. Daran kann auch das gedämpfte Blaulicht jener elektrischen Weihnachtsbaumgirlanden wenig ändern, die seit Einführung von Bildungsgebühren Jahr für Jahr das Campus-Ambiente verfeinern.
Als der größte anzunehmende Hochschulpräsident des designierten centers of exorbitance unterdessen auf dem Rücksitz einer Luxuslimousine des hochschuleigenen Fahrdienstes den größten real existierenden Hörsaal erreicht, ist auch der Bundesminister für Zukunft bereits eingetroffen, flankiert von einem vielköpfigen Aufgebot der örtlichen Bereitschaftspolizei. Die Kreativität kennt offenbar keine Grenzen, um den Beton an diesem Festtag kunstvoll zu illuminieren. Wie es leuchtet, dieses immer wieder einsatzsignal-blau durchzuckte Olivgrün der Uniformen! Sogar ein Sanitätsbeamter mit rotem Käppie ist dazwischen. Vom verschiebbaren Dach des einer riesenhaften Qualle gleichenden Rohbetonbaus seilt sich gerade eine Sondereinheit ab, offenbar mit dem Auftrag, auch den letzten Winkel nach nieselnassen Nassnieselschneebällen und ähnlichem zu durchforsten, um jedwede mögliche Störung der festlichen Zeremonie auszuschließen. Im Eingangsbereich werden zudem sämtliche Gegenstände konfisziert, die potentiell geeignet sein könnten, die Veranstaltung akustisch zu unterminieren. Selbst großformatige Druckwerke, die eventuell als lärmerzeugende Schlaginstrumente herhalten könnten, werden einstweilen eingesackt. Auch Nemo muß einen unförmigen historischen Atlas, eine Dauerleihgabe der Historiker, abliefern, den er nach seiner heutigen Exmatrikulation eigentlich der Bibliothek seines ehemaligen Instituts hatte zurückgeben wollen. Aber was soll’s – sollten das doch die Ordnungshüter für ihn übernehmen. Außerdem stand die gesamte Historische Fakultät ohnehin auf der Abschußliste – an der exorbitanten Akademie der Zukunft werde eine „übereifrig-akribische wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit“ als „nicht mehr zeitgemäß“ empfunden, so hatte es der Präsident in seiner jüngsten Rede auf den Punkt gebracht.
Applaudieren – natürlich nur an den richtigen Stellen – ist jedoch ausdrücklich erwünscht, und so bricht scheinbar spontaner Jubel aus, als der zu kürende Exorbitanzpräsident seinem auf Hochglanz polierten Gefährt entsteigt und dem Zukunftsminister feierlich die Hand schüttelt. Obwohl er es bis zum Hochschulpräsidenten gebracht hat, wirkt sein Händedruck immer noch etwas linkisch. Außerdem ist es ihm trotz intensiven ergotherapeutischen Trainings und Verhaltenstherapie unter Anleitung hochbezahlter Psychologinnen auch im Vorfeld des zu erwartenden Höhepunkts seiner Karriere nicht gelungen, die schlechte Angewohnheit abzulegen, den kleinen Finger beim offiziellen Händeschütteln stets einzuklappen. Dies soll ihm am heutigen Tage jedoch zum Verhängnis werden…
Nemo ist einer der wenigen, die nicht applaudieren, als auch das Blitzlichtgewitter und Kameraklicken der zahlreich anwesenden Journalisten in eine staatstragende Begrüßungskakophonie einstimmt, die ein kaum vernehmbares Knacken übertönt, als die fleischige Ministerpranke die knochige Hand des Hochschulpräsidenten drückt. Niemand außer ihm selbst und der Spiegelreflexkamera eines übereifrigen Papparazzo scheint die Fraktur des mittleren Segments seines kleinen Fingers wahrgenommen zu haben: Nur einen Sekundenbruchteil ist das joviale Präsidenten-Siegerlächeln schmerzverzerrt. Und auch für diesen winzigen Augenblick der Schwäche könnte sich seine Magnifizenz in Grund und Boden ärgern – spätestens, als er am nächsten Morgen sein Konterfei im Großformat auf den Titelseiten der führenden Regionalzeitungen erblickt: Es scheint, als blicke er – erstmals in seiner Laufbahn – in den Abgrund der Niederlage.
Während der nachfolgenden Rede des Zukunftsministers dagegen setzt der Präsident der größten anzunehmenden Universität der Rohrstadt wieder ein – nun freilich etwas angespannt wirkendes – maskenhaftes Siegergrinsen auf. Auch als die entscheidenden Worte fallen, fällt die Maske nicht. Wie er das macht, ist Nemo ein Rätsel. Kaltschnäuzig bemängelt derweil der Minister, dessen schwarzes Kostüm entfernt an eine Knecht-Ruprecht-Verkleidung erinnert, die „mangelnde Zukunftsfähigkeit der Rohrstadtakademie“, die ihre „plebejischen Wurzeln noch immer nicht ganz abgestreift“ habe: Jegliche „sozialromantischen Sonderreglungen in der Hochschulverfassung“, wie er sich ausdrückt, seien künftig „konsequent zu tilgen und ersatzlos zu streichen“. Zudem fehle noch der „Mut, sich endlich von den letzten Versatzstücken der Geisteswissenschaften zu verabschieden“ – immer noch gebe es „nutzlose, nicht wirtschaftsverwertbare Angebote im Bereich von Randsprachen wie Japanisch, Französisch, Spanisch“ – dies alles müsse restlos verschwinden, bevor den Exorbitanzkriterien des Zukunftsministeriums und des privatwirtschaftlichen Centers for highschooldevelopement zur Genüge Rechnung getragen sei. Selbst als ein ziemlich unauffälliger Student mit Ringelpulli und Lederjacke, der sich irgendwie durch die Sicherheitskontrollen geschlichen haben muß, seiner Magnifizenz als „Trostpreis“, wie er durch ein auf unbekanntem Weg in seine Hände gelangtes Mikro verlauten läßt, einen Eimer Schlacke samt sternbekrönter Spitze des abgesägten Campusweihnachtsbaums überreicht, bedankt sich der düpierte Präsident höflich, faselt in künstlicher Euphorie irgendetwas von „jede Menge Asche“ und betont, wie knapp doch die Rohrstadtakademie am exorbitanten Ritterschlag vorbeigeschrammt sei. „Exorbitanz und Wahnsinn“, murmelt Nemo halblaut und beschließt, seine letzten Stunden auf dem Campus nicht länger in dieser Narrensitzung zu verschwenden.
Draußen zerschneiden dumpfe Bässe und Gejohle den Nieselschnee – vor dem größten Hörsaal wird die Niederlage im Exorbitanzwettbewerb unbeirrt wie ein Sieg gefeiert, während aus der Ferne das Dröhnen der U53 an den Wänden der Betonqualle GAUdimax zerschellt. Das ultimative Zeichen zum Aufbruch.