Montag 20.09.10, 16:00 Uhr

Patient Massenmörder


Der-notstand präsentiert am Freitag, den 24. September um 19.00 Uhr im Sozialen Zentrum eine Buchvorstellung und Diskussion zum Thema Psychiatrie, Entartung, Massenmord. In der Ankündigung heißt es: »Hirnforschung, die Täter der RAF, Amokläufe in Schulen – was haben diese Themen mit einem historischen Mordfall zu tun? Der Literatur- und Sozialwissenschaftler Rolf van Raden untersucht in seinem Buch „Patient Massenmörder“, wie eine spektakuläre Gewalttat bis in die Gegenwart wirkt. Im September 1913 tötete der schwäbische Hauptlehrer Ernst August Wagner seine Frau und seine vier Kinder. Anschließend erschoss er neun weitere Menschen und verletzte elf schwer. Noch heute beziehen sich WissenschaftlerInnen und JournalistInnen auf den Fall:
In psychiatrischen Lehrbüchern gilt Ernst Wagner als unheilbarer Paranoiker, der in die Anstalt gesperrt wurde, um die Gesellschaft zu schützen. Neurowissenschaftler nutzen den Fall, um zu beweisen, dass die Ursache von Verbrechen angeblich in der Gehirnphysiologie des Täters liegt. JournalistInnen sehen in Ernst Wagner den Prototyp des modernen Amokläufers und fordern im gleichen Atemzug eine verstärkte Sicherheitspolitik. Und dann sind da noch Ernst Wagners eigene Schriften: Der Mörder schrieb Theaterstücke, antisemitische Flugblätter, aber auch Eingaben mit militärischen Strategien an die Oberste Heeresleitung, in denen er erklärte, wie das Reich den Ersten Weltkrieg gewinnen könne. Mit seinen Psychiatern hatte er viel gemeinsam: Wagner erklärte, er habe seine Familie getötet, weil sein ganzes Geschlecht entartet sei.
Währenddessen entwickelten seine Ärzte selbst Entartungstheorien und forderten die ‚Tötung lebensunwerten Lebens‘. In „Patient Massenmörder“ rekonstruiert der Autor, wie im Deutschen Kaiserreich, in der Weimarer Republik, im Nationalsozialismus und in der Bundesrepublik über den Fall gesprochen und geschrieben wurde. Dabei kommt er zu bemerkenswerten Ergebnissen: Zunächst bemächtigten sich die Psychiater des Falls. Schritt für Schritt dehnten sie die Reichweite ihrer Diskurse aus, bis im Nationalsozialismus schließlich die ärztliche Tötung von mehr als 100.000 Anstaltsinsassen möglich wurde. Der Täter Ernst Wagner und seine Psychiater erscheinen in diesem Zusammenhang als Referenzfiguren eines Jahrhunderts der Biopolitik, das keineswegs 1945 endete.
Indem Rolf van Raden die Diskurse über Krankheit, Verbrechen, Schuld und Geisteskrankheit bis in die Gegenwart nachverfolgt, zeigt er: Noch immer wird die vor den Gefahren zu schützende Gesellschaft als quasi-biologischer Organismus gedacht. Rolf van Raden ist Mitarbeiter des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung (DISS) und arbeitet als freier Journalist. Forschungsschwerpunkte: Diskursanalyse, Biopolitik, kritische Psychiatriegeschichte, Literatur und Macht-Wissen. «